Mentoring

Wie wir eine Kultur des Förderns entwickeln können

von Swen Schönheit

Leiter fallen nicht vom Himmel – dabei werden sie so dringenden gebraucht! Künftige Leiter müssen gefunden, gefördert, gewonnen werden. Zurzeit ist das Stichwort „Mentoring“ in aller Munde, überall suchen Menschen nach geeigneten Mentoren. Doch nicht jeder, der sich Mentoring wünscht, sieht sich erklärtermaßen als „Leitungsperson“ oder „Führungskraft“. Viel allgemeiner ist Mitarbeiterförderung gefragt, Persönlichkeitsentwicklung, ein Stück Begleitung fürs Leben. Liegt hier ein Schlüssel für diese Generation? Ist Mentoring das Mittel der Wahl, um Menschen in ihrer Entwicklung zu einer verantwortlichen, vorbildlichen, tragfähigen Persönlichkeit zu begleiten? Wären unsere Gemeinden nicht gut beraten, wenn sie Mentoring in ihr gesamtes „Betriebssystem“ einbauen würden?

Neuer Begriff – alte Sehnsucht

„Wenn du mit vernünftigen Menschen Umgang pflegst, wirst du selbst vernünftig. Wenn du dich mit Dummköpfen einlässt, schadest du dir nur. … Mein Sohn, vertraue dich mir an und nimm dir mein Leben zum Vorbild!“ (Spr 13,20; 23,26 | HFA). Die Weisheit der Bibel hat nichts von ihrer Aktualität verloren: Der Umgang mit anderen Menschen prägt uns – so oder so! Vor allem junge Menschen sehnen sich im Tiefsten danach, ernstgenommen und ehrlich „angefasst“ zu werden, auch wenn sie dies vielleicht nicht offen zugeben.

  • Wer glaubt eigentlich an mich? Wie siehst du mich?
  • Worin bin ich gut? Wofür kann ich mein Bestes geben?
  • Wem nützt mein Leben überhaupt? Wie passe ich in diese Welt?

Eigentlich wünscht sich jeder von uns ehrliche Antworten auf diese lebenslangen Fragen. Ehrliches Feedback ist angesagt – obwohl sich die meisten damit schwertun. Entscheidende Voraussetzungen sind eine Basis von Vertrauen, Beziehungen von hoher Qualität und der passende Rahmen. All diese Erwartungen und Bedürfnisse verbergen sich hinter dem Begriff „Mentoring“. Im pädagogischen Sinn kennt die deutsche Sprache den „Mentor“ erst seit dem 18. Jahrhundert, in den letzten Jahrzehnten hat er sich vor allem im Bereich der Wirtschaft etabliert. Mentoren-Programme werden inzwischen in allen möglichen Ausbildungsgängen entwickelt, um die Führungskräfte von morgen zu fördern.

Mentoring ist nun kein biblischer Begriff, vielmehr stammt der Name Mentor aus der griechischen Mythologie: Als Odysseus zu seinen Abenteuern nach Troja aufbricht, sucht er für seinen Sohn Telemachos einen Hauslehrer. Diesen findet er in der Gestalt Mentors, den ihm die göttliche Athene vermittelt.1 Aus dem Eigennamen wurde also eine Marke (ähnlich wie beim „Tempo“-Taschentuch oder beim „Tesa“-Film). Dennoch ist die Sache selbst zutiefst in der Bibel verankert …

Mentoring: ein Muster in der Bibel

„Was uns die Väter erzählten, das wollen wir unseren Kindern nicht verbergen, sondern dem kommenden Geschlecht erzählen.“ Und auch „die Kinder späterer Zeiten sollten aufstehen und es weitergeben an ihre Kinder, damit sie ihr Vertrauen auf Gott setzen …“ (Ps 78,3-8 | EÜ). Die Stabübergabe von Generation zu Generation war in Israel bei der Familie angesiedelt. Die Väter sollten im Alten Bund zugleich Mentoren und Hauslehrer ihrer Kinder sein! Bei einer geistlich intakten Familienstruktur braucht es hier ebenso wenig Extra Programme wie zusätzliche „Hauskreise“. Allerdings zeigt das Alte Testament auch realistisch, dass geistliche Prozesse oftmals gerade nicht auf Grundlage der Familie gelingen (vgl. 1 Sam 2,29; 3,13). Insofern gewinnt Gott seine Leute vielfach über den Weg der „Ersatzväter und Mütter“, durch Freunde von außerhalb, durch geistliche Berater und Begleiter.

Im Neuen Bund sehen wir das Mentoren-Prinzip in ausgeprägter Form, obwohl man beim Bibellesen dafür erst einmal den Blick entwickeln muss. Paulus war auf seinen internationalen Reisen alles andere als ein Einzelgänger. Ständig hatte er „die Brüder“ um sich, schrieb seine Briefe gemeinsam mit Koautoren und gewann von Ort zu Ort neue Mitarbeiter. Eine Untersuchung belegt 58 namentlich erwähnte Männer und Frauen im Team des Paulus.2 Herausragend waren dabei:

  • Aquila und Prizilla: In diesem Ehepaar fand Paulus wertvolle Mitarbeiter und „Hauseltern“ einer späteren Gemeinde (Apg 18,1-3.18; Röm 16,3-5; 2 Tim 4,19).
  • Prizilla und Aqulia (häufiger wird sie zuerst genannt!) wiederum förderten Apollos, der später selbst zu den Aposteln zählte (Apg 18,24-28; 1 Kor 1,12; 3,4-6).
  • Johannes-Markus: Auch er wurde in späterer Zeit für Paulus zu einem geschätzten Mitarbeiter (Kol 4,10; 2.Tim 4,11; Phm 24).
  • Der Arzt Lukas: In ihm hatte der Apostel einen Reisebegleiter, später wird er zum Autor von Evangelium und Apostelgeschichte (Apg 16,10; 20,13; Kol 4,14; 2 Tim 4,11; Phm 24).
  • Timotheus: Er war für Paulus der wichtigste „geistliche Sohn“ und wurde durch ihn zum künftigen Gemeindeleiter aufgebaut (Apg 16,1-3; 17,14-15; 18,5; 19,22; Röm 16,21; Phil 2,19-22).

Paulus dürfte allerdings kaum der „Erfinder“ des Mentoring sein. Er selbst wurde durch Barnabas entdeckt, gefördert und in den apostolischen Dienst eingeführt (Apg 9,26-30; 11,25-30; 13,1-4.46). Diese Entdeckung macht nachdenklich: Hätten wir ohne einen Barnabas (den die Apostel „Ermutiger“ nannten; Apg 4,36-37) möglicher niemals von dem großen Völkerapostel gehört? Doch Barnabas seinerseits ging bereits auf der Spur Jesu …

Von der Strategie Jesu lernen

Im Alten Bund begegnen uns die Prophetenschulen, wo Leben und Lernen ganz natürlich zusammengehörten. Das verbindliche Miteinander einer ausgewählten Gruppe brachte Nachwuchskräfte hervor, die oft schon im weltlichen Beruf eine Menge erreicht hatten, sich dann aber radikal Gott zur Verfügung stellten. Elisa beispielsweise verließ seine Arbeit als Landwirt und wurde Diener des Elia. Als dieser schließlich direkt in den Himmel aufgenommen wird, ruft ihm sein Schüler hinterher: „Mein Vater, mein Vater!“ (1 Kön 19,11-13.19-21). Später berief Jesus die Fischer am See, in deren Fähigkeiten er „Reich-Gottes-Gelegenheiten“ sah. Ihnen wurde er zum geistlichen Vater (vgl. Lk 5,1-11; Joh 21,5). Das Muster der Propheten- bzw. der Rabbinen-Schulen stand sicherlich im Hintergrund, als Jesus zwölf Männer erwählte, „die er bei sich haben und die er dann aussenden wollte, damit sie predigten und mit seiner Vollmacht Dämonen austrieben“ (Mk 3,13-16 | EÜ). Jesus nannte seine Schüler zugleich „Apostel“, also „Abgesandte“ (Lk 6,12). Sie sollten Repräsentanten eines Reiches sein, das in Jesu Person auf die Erde gekommen war. Sie sollten schließlich Multiplikatoren einer weltweiten Bewegung werden, bei der Gott ausschließlich auf Menschen setzte. Dazu mussten die Jünger (wörtlich „Schüler“) aber zuerst bei Jesus in die Schule gehen. Das „Lehrbuch“ bildete er selbst, die Schule für ihren Charakter war die ständige Gemeinschaft mit ihm. So kam es bei diesen Männern zu einer allmählichen Verwandlung ihrer Persönlichkeit. Was die Schule Jesu schließlich hervorbrachte, war nicht Schriftgelehrsamkeit, sondern Jesusähnlichkeit (Mt 11,29-30; Lk 6,40; 22,24-30)!

Jesus hat in seinem Ausbildungsprogramm (das weniger als zwei Jahre umfasste) auf geniale Weise verbunden, was unserer akademisch geprägten Denkweise in der Regel völlig abgeht: Er bot zuerst seine Nähe an, war erreichbar, nahbar und für seine Schüler „lesbar“. Sein Leben prägte sie tiefer als alle abstrakte Lehre! Dabei forderte er sie schon bald heraus, seinem Vorbild zu folgen und selbst tätig zu werden. Ihre Praxiserfahrungen motivierten sie stärker als alles andere. Das verbindliche Miteinander in der überschaubaren Gruppe, die ständige Inspiration durch Jesus und die gemeinsamen Lernerfahrungen versetzten sie schließlich in die Lage, international als „Zeugen“ des Messias aufzutreten (Apg 1,8; 5,32). Ohne Jesus als Mentor hätten sie diesen Punkt niemals erreicht!

Günter Krallmann definiert einen „Mentor“ in seinem grundlegenden Buch „Leidenschaftliche Leiterschaft“ als einen Menschen, „der eine enge Beziehung zu einem Schützling aufbaut und auf der Grundlage von Gemeinschaft, Vorbild, Rat, Ermutigung, Korrektur, praktischer Hilfe und Gebet seinen Schüler dahin bringt, ein tieferes Verständnis der göttlichen Wahrheit zu erlangen, ein Leben in größerer Heiligkeit zu führen und Gott wirksamer zu dienen.“3 Und Tobias Faix formuliert: „Der Mentor versucht dem Mentee in seiner persönlichen und geistlichen Entwickelung zu helfen und seine Fähigkeiten und Gaben zu fördern und freizusetzen. Der Mentor ist fähig, seinen Mentee zu unterstützen und positiv zu beeinflussen, sodass dieser sein Potenzial entfalten kann.“4 Wie können wir dies nun praktisch „in kleiner Münze“ umsetzen? Welche Voraussetzungen braucht es für gelingende Mentoren-Beziehungen? Welche methodischen Hilfen gibt es?

Menschen sind wichtiger als Methoden

Meine Beobachtung ist: Vor allem junge Menschen interessieren sich weniger für „fertige Programme“. Vielmehr sind sie ansprechbar für Menschen, die sich Zeit nehmen, gut zuhören können und echt wirken. Wer anderen als Mentor dienen möchte, sollte zuerst seine eigenen Motive überprüfen. Suche ich im Tiefsten nur neue Mitarbeiter für meinen Dienst? Dann werde ich nicht in der Lage zu sein, Menschen absichtslos zu fördern. Ebenso werde ich anderen kaum helfen können, ihren Weg mit Gott zu finden, wenn ich mich selbst bestätigen will oder gar Menschen an mich binde. Am Thema Mentoring zeigt sich, ob es uns wirklich „zuerst um Sein Reich“ geht (Mt 6,33). Zuerst die richtige Mentalität, dann die Methoden!

Innere Voraussetzungen

  1. Vertrauen: Beide Partner lassen sich gegenseitig „in die Karten“ blicken und vereinbaren eine offene und transparente Gesprächskultur.
  2. Erwartungen: Beim Vorgespräch klären wir ehrlich, was der Mentee sich von der Beziehung erhofft und was der Mentor realistisch leisten kann. Überhöhte Erwartungen führen nur zu Enttäuschungen.
  3. Lernbereitschaft: Beide Partner sind Lernende und stehen als Jünger gemeinsam vor ihrem Herrn. Ein guter Mentor ist nicht einfach Antwortgeber, sondern führt sanft durch gezielte Fragen.
  4. Verantwortlichkeit: Mentoring beinhaltet die Bereitschaft zur Rechenschaft. Zu einer verantwortlich gestalteten Beziehung gehören Vereinbarungen, klare Verabredungen und auch „Hausaufgaben“.

Der äußere Rahmen

  • Treffpunkt und zeitlicher Rahmen: Wo treffen wir uns, wann und wie oft? Wie lange soll die Mentoren-Beziehung voraussichtlich gehen (z.B. ein oder zwei Jahre)?
  • Fragestellungen und Themen: Welche persönlichen Fragen beschäftigen dich? Welche Aspekte deines Lebens wollen wir beleuchten? Welchen biblischen Themen könnten wir uns stellen?
  • Medien und Module: Welche Bücher oder Artikel könntest du lesen? Welche Vorträge anhören? Welche Veranstaltungen wollen wir gemeinsam besuchen?
  • Kontakte und Gelegenheiten: Welche Beziehungen kann ich dir vermitteln? Wen musst du unbedingt kennenlernen? Wann kann ich dich „in Aktion“ erleben? Wo arbeiten wir zusammen?
  • Zwischenbilanz und Abschluss: Wann ziehen wir Zwischenbilanz? Welche Form des gegenseitigen Feedbacks vereinbaren wir? Wie würde ein positiver Abschluss der Beziehung für dich aussehen?

Themen und Fragestellungen

Die nebenstehende Grafik versucht, die wichtigsten Themen und Fragestellungen für den Mentoring-Prozess zu benennen. Bei den zweimal sieben Stichworten geht es um einen inneren und einen äußeren Bereich: Die „verborgene Seite“ wird im weltlichen Kontext in der Regel weniger thematisiert, zählt allerdings vor Gott umso mehr und bildet die Voraussetzungen unserer „sichtbaren Seite“.

Mentoring sollte immer beide Aspekte thematisieren: Unser Sein und unser Erscheinen, unser Innenleben ebenso wie unser öffentliches Leben und Handeln. Schließlich wollen wir durch geistliches Mentoring wir nicht nur „Führungskräfte“ hervorbringen, sondern Männer und Frauen nach dem Herzen Gottes!

Swen Schönheit, Barnabas.Berlin

Zur Vertiefung: Biblische Beispiele für Mentoren-Beziehungen

Die Bibel enthält viele eindrückliche Lebensbilder von Menschen, die erst durch andere wurden, was sie schließlich waren und wofür sie heute bekannt sind. Ob wir nun von Mentoren, väterlichen Freunden oder prophetischen Beratern sprechen: Immer steckt dasselbe Prinzip der Förderung von Generation zu Generation dahinter. Alle diese Beispiele – hier aus dem Alten Testament – können uns ermutigen, dass auch durch unseren Einfluss die Stafette weitergegeben werden kann:

  • Jitro wird zum weisen Ratgeber für Mose in einer Phase der Überlastung: die erste strategische Organisationsberatung in der Bibel (2 Mose 18,13-26)!
  • Mose baut Josua langfristig als seinen Nachfolger auf (4.Mose 11,28: sein „Diener“). Nach Moses Tod führt er Israel ins versprochene Land (5.Mose 31,7-8; 34,9-10).
  • Samuel entdeckt David als neuen König Israels. Während der Verfolgungszeit durch Saul findet David beim Propheten Schutz und Zuspruch (1.Sam 13,14; 16,6-13; 19,18-24).
  • Nathan steht David als prophetischer Berater zur Seite, ermutigend und ermahnend (2.Sam 7,1-17; 12,1-15.24-25). Später wird Nathan zum Erzieher für den Thronfolger Salomo (1.Kön 1,34-37).
  • Elia findet in Elisa einen Propheten der nächsten Generation (1.Kön 19,15-21). Von seinem Vorgänger erbittet er den „zweifachen Anteil an deinem Geist“ (2 Kön 2,9-15) – und tut in der Folge die weitaus größeren Wunder!
  • Jojada steht dem jungen Joas zur Seite, der bereits mit sieben Jahren König wird. Und „Joas tat, was dem Herrn gefiel, solange der Priester Jojada lebte.“ (2 Chr 24,1-2)

Anmerkungen

  1. Homer, Odyssee 22-24; bei: Herbert Hunger, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Wien (81988), S. 317, 350-353
  2. Sonja Wrage, 2Tim 2,2 – eine „Schlüsselstelle“ für Mitarbeiterförderung? Bonn (2009), S. 17-38
  3. Günter Krallmann, Leidenschaftliche Leiterschaft – Der Auftrag Jesu zur Mission, Unna/Schwarzenfeld (2008), S. 149
  4. Tobias Faix, Mentoring – Chancen für geistliches Leben und Persönlichkeitsprägung, Neukirchen-Vluyn (22003), S. 49

Bibelstellen: Hoffnung für alle und Einheits-Übersetzung

Dieser Artikel erschien zuerst in: Charisma Nr. 162 (4. Quartal 2012)

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