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„Abschied von Gott“?

Warum die Krise auch an unsere Kirchentüren klopft …

von Swen Schönheit

Kürzlich nahm ich teil an einer Videokonferenz, bei der es um die Frage ging, ob es „kirchliche Innovationsschübe durch die Corona-Krise“ gegeben habe. Seitdem öffentliche Zusammenkünfte untersagt wurden und auch Kirchengebäude verschlossen blieben, entwickelte sich ein regelrechter Boom an digitalen Formaten. „Die Komm-Struktur wurde auf Nulllinie gefahren“, hieß es beim Austausch auf EKD-Ebene. Dafür entwickelten Gemeinden eine erstaunliche Kreativität bei der Gestaltung von Gottesdiensten bei YouTube. Viele Pfarrer und Pfarrerinnen betraten damit Neuland und staunten: Über die digitalen Medien wurden hier und dort zehnmal so viele Menschen erreicht wie über die gewohnten Veranstaltungen vor Ort. „Hat der Heilige Geist durch diesen Zwang etwas bewirkt?“, fragte einer der Teilnehmer. Sicherlich sind Menschen neugierig geworden auf „Kirche“, die sich bisher nicht für unsere herkömmlichen Formate interessiert haben. Doch „die eigentliche Arbeit liegt erst vor uns. Die hohen Zahlen, die aus der midi-Studie hervorgehen, sind sozusagen ein Vorschuss, den wir uns nach­träglich noch ‚verdienen‘ müssen.“ Mehr dazu in der Studie von midi: https://www.mi-di.de/materialien.

Ich frage mich: Welche Gestalt von Kirche wollen wir künftig leben? Was macht „Kirche“ in unserem Land zukunftsfähig, anschlussfähig für eine Bevölkerung, die sich mehrheitlich vom traditionell gelebten Christentum verabschiedet hat? Nachdenkliche Töne schlug unser Berliner Bischof Christian Stäblein in seinem „Bericht zur Lage“ im Mai 2020 an: „Die Corona-Krise hat eine Krise des Gottesdienstes sichtbar gemacht, die nicht erst gestern begonnen hat. Was wir schon wussten, ist deutlicher vor Augen getreten.“. Stäblein meint, die „Form des Sonntagsgottesdienstes 10 Uhr, analog“ sei „häufig eine Zielgruppenveranstaltung mit hohen Hindernissen. … Mit der Zäsur der Pandemie scheint mir der Abschied vom allein dominanten Paradigma des analogen Sonn­tagsgottesdienstes 10 Uhr an jedem Ort eingeläutet“ zu sein. An seine Stelle dürfte künftig eine Vielfalt von Gottesdienstgestalten treten.

Natürlich tut es weh, wenn man sich nicht mehr treffen, Gemeinde nicht mehr „fühlen“ kann. Virtuelle Gottesdienste ermöglichen nur sehr begrenzt die „Gemeinschaft der Heiligen“. Dennoch bleibt mir die Diskussion um „hybride Formate“ (digital und/oder analog?) zu sehr an der Oberfläche: Es geht doch nicht nur um Öffentlichkeitswirksamkeit und die „Performance“ von Kirche. Ihre gesamte Gestalt steht zur Disposition und zugleich die Frage nach den Inhalten: „Was macht Kirche zur Kirche?“ Wozu braucht man sie heute noch?

Im Mai 2019 erreichte die Großkirchen ein deutlicher Weckruf durch die Studie der Universität Freiburg „Kirche im Umbruch“. Darin wird eine „Projektion“ bis zum Jahr 2060 versucht: Bis dahin dürfte sich die Zahl der evangelischen und katholischen Kirchenmitglieder in Deutschland nahezu halbieren. Und auch die Kirchensteuermittel werden bis dahin nur noch halb so viel wert sein. Wer den Warnschuss im Zuge der Corona-Pandemie schon wieder vergessen hat, wird im Frühjahr 2020 mit neuen Zahlen aufgeschreckt: Im Jahr 2019 haben in Deutschland über 540.000 Menschen den beiden großen Kirchen den Rücken gekehrt. In der Dimension einer Großstadt wie Hannover gehen Kirchenmitglieder lautlos von Bord – ein neuer trauriger Rekord!

Im Kommentar einer führenden Berliner Zeitung wurde kürzlich nach überzeugenden Antworten durch die Verantwortlichen gefragt. Die Großkirchen mahnt Malte Lehming: „Wer nicht jetzt die Kernaufgaben neu definiert – und Verzichtbares klar bekennt –, versündigt sich an der künftigen Generation“. Interessant ist bei diesem Kommentar unter der Überschrift „Abschied von Gott?“ der vergleichende Blick auf die weltweite Christenheit, besonders in Afrika und Asien: „Wo das Christentum wächst, ist es oft pfingstkirchlich, charismatisch und evangelikal geprägt.“ Daraus folgt für den Autor: „Schrumpfende Kirchen müssen sich spirituell öffnen“ (Der Tagesspiegel, 5.7.2020).

Zum „globalen Lernen“ als Christenheit gehört allerdings auch der Blick auf die verfolgte Kirche: Während wir in Deutschland auf hohem Niveau leiden und uns zunehmend abfinden mit einem Überhang an ungenutzten Gebäuden und fortschreitendem Personalmangel bei schwindenden Mitgliederzahlen, wächst die verfolgte Christenheit! Trotz staatlicher Bedrohung, vielfach ohne eigene Gebäude oder bezahlte Mitarbeiter sammeln sich die Verfolgten in „Hausgemeinden“ und bekennen trotz Gefahr für Leib und Leben mutig ihren Glauben. Wie ist das möglich? Und was könnten wir von ihnen lernen für eine „Kirche im Umbruch“?

Falls uns der Blick auf diese Wirklichkeit unangenehm ist, sollten wir wenigstens unser evangelisches Erbe ernstnehmen! Mir scheint die Reformation immer noch als unerledigte Aufgabe vor uns zu liegen. Viele gute Ansätze aus Reformation, Pietismus und Erweckungsbewegung scheinen in der aktuellen Diskussion keine wichtige Rolle mehr zu spielen. Zwei Bespiele:

Als Martin Luther im Jahr 1520 formulierte: „Alle Christen sind wahrhaft geistlichen Standes; es ist unter ihnen kein Unterschied als allein hinsichtlich des Amtes. Wie Paulus in 1.Korinther 12 sagt, dass wir allesamt ein Körper seien. … Wir werden allesamt durch die Taufe zu Priestern geweiht“, legte er die Axt an die Wurzel eines über tausend Jahre alten Systems der staatlich gestützten Amtskirche. Zugleich öffnete er die Tür zu einer neuen Gestalt von Kirche, die durch ein mündiges Gottesvolk gestaltet wird, notfalls ohne vollzeitliche Mitarbeiter. Warum hat dieser biblische Gedanke nicht mehr Gemeinden in ihrer Grundstruktur transformiert?

Ferner gab Martin Luther 1526 die Anregung, dass sich Menschen, „welche mit Ernst Christen sein wollen“ auf privater Ebene als „Kirchlein“ sammeln sollten. Solche Hausversammlungen würden alle Merkmale der „Kirche“ haben einschließlich Verkündigung, Abendmahl und Taufe sowie der materiellen Unterstützung von Bedürftigen. Dieser innovative, urchristliche Ansatz in Luthers „Vorrede zur Deutschen Messe“ verschwand bedauerlicherweise in der Versenkung, bis Jacob Philipp Spener mit seinem Reformprogramm „Pia Desideria“ darauf zurückkam (1675). Seine Hausversammlungen in Frankfurt markieren den Beginn des Pietismus in Deutschland. Seitdem sind uns „Hauskreise“ vertraut und für viele in ihrem Glaubensleben unverzichtbar. Allerdings blieb die Grundstruktur unserer Kirchengemeinden davon weitgehend unberührt.

Schließlich geht es nicht nur um die Gestalt der Kirche, sondern um Inhalte, die Menschen überzeugen. Auf dem Prüfstand stehen derzeit nicht nur die Strukturen der Volkskirche, sondern auch die Frage nach ihrer Substanz. „Der wahre Schatz der Kirche ist das […] Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes“, hat Martin Luther 1517 in seinen 95 Thesen formuliert. Das Evangelium vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus hat bis heute nichts von seiner Kraft eingebüßt (Römer 1,16)! Wo es jedoch verblasst, hinter gesellschaftspolitischen Fragen zurücktritt oder dem Zeitgeschmack angepasst wird, verliert Kirche ihre Ausstrahlungskraft. Wenn es uns nicht gelingt, den „unique selling point“ erkennbar zu machen, unsere unverwechselbare und unverzichtbare Botschaft, wird Kirche in der Belanglosigkeit verschwinden.

Nach meinem Verständnis wird die Zukunft der Kirche in unserem Land (ob nun landes- oder freikirchlich geprägt) im Kern davon abhängen, ob wir konsequent …

  • Gemeinde leben sowohl „in der Kirche“ als auch „von Haus zu Haus“
  • Gemeindeglieder in Leitungsaufgaben stärken und ehrenamtliches Engagement fördern
  • Gottesdienstbesucher in die lebendige Nachfolge Christi führen
  • Das Evangelium auf allen Kanälen und in allen Kreisen zur Hauptsache machen
  • Gebet als entscheidende Kraftquelle wieder entdecken und dem Heiligen Geist Raum geben
  • Unsere kulturellen Festlegungen überwinden und Tradition mit Innovation verbinden
  • Den dreieinigen Gott ins Zentrum rücken und ihm seine Gemeinde zurückgeben

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