ENTWICKLUNG DER CHARISMATISCHEN BEWEGUNG
Das Charisma der Charismatischen Erneuerung
von Swen Schönheit
„Geistvergessenheit“ in der Kirche …
Im Jahr 1945, als der deutsche Protestantismus nach der Katastrophe des „Dritten Reiches“ einen Neubeginn suchte, fand der Schweizer Theologe Emil Brunner deutliche Worte: „Wir sind eine arme Christenheit – trotz unserem Reichtum an Bibel, an Predigten, an Unterricht, an Theologie, an Literatur, an kirchlichen Werken und Organisationen, weil wir arm sind an heiligem Geist.“ Arm sei die Kirche im Blick auf die Kräfte des Heiligen Geistes, „wie sie uns im Bild der neutestamentlichen Gemeinde entgegentreten.“
Zwei Jahrzehnte später sprach der Berliner Theologe Otto Dilschneider von der „Geistvergessenheit der Theologie“. Die Kirche dürfte Pfingsten nicht länger als Anhängsel der Heilsgeschichte betrachten: „Wir können hinter Pfingsten nicht mehr zurückgehen. … Das Bekenntnis zum Heiligen Geist ist die Eingangspforte in den Bereich unseres christlichen Glaubens und seiner Glaubensinhalte.“
Damit lag er auf der Linie seines Lehrers Karl Barth, der noch in seinem Todesjahr (1968) über „die Möglichkeit einer Theologie des 3. Artikels, beherrschend und entscheidend also des Heiligen Geistes“ nachdachte. „Was ich gelegentlich träume hinsichtlich der Zukunft der Theologie“, müsse in diese Richtung zielen, doch „ich werde diese Zukunft nicht mehr erleben“.
… und neue Sehnsucht nach dem Geist
„Wir erleben in der Kirche einen Zeitabschnitt, der in besonderer Weise vom Heiligen Geist gekennzeichnet ist.“ Dies war die Überzeugung von Papst Paul VI. (1963–1978). Die charismatische Bewegung in der katholischen Kirche bezeichnet er auf ihrem ersten Weltkongress 1975 als „eine Chance für die Kirche und die Welt“. Ebenso formulierte Papst Johannes Paul II. (1978–2005) den „Wunsch, dass sich eine pfingstliche Spiritualität in der Kirche ausbreite, die sich zeigt im neuen Eifer im Gebet, in der Heiligkeit, im Gemeinschaftsleben und in der Verkündigung.“
Bei einem Treffen der neuen Laienbewegungen zu Pfingsten 1998 rief er seiner Kirche zu: „Nehmt die Charismen dankbar und gehorsam an, die der Geist uns unaufhörlich schenkt!“ So sieht sich die Katholische charismatische Bewegung als Antwort auf ein Gebet, zu dem Papst Johannes XXIII. (1958–1963) seine Kirche anlässlich des Zweiten Vatikanischen Konzils aufgerufen hatte: „Herr, erneuere deine Zeichen und Wunder in unseren Tagen, wie in einem neuen Pfingsten.“
Bewegungen – keine neue Kirche
Während die Pfingstbewegung, deren Aufbruch in den USA am Beginn des 20. Jahrhunderts liegt und die 1907 auch Deutschland erreichte, eine eigene Kirche wurde, erreichte die charismatische Bewegung die traditionellen Konfessionen seit den 1960er Jahren. Der Beginn des charismatischen Aufbruchs in der katholischen Kirche liegt bei einer Hochschulgruppe 1967 in den USA. Innerhalb der Lutherischen Kirche kam es fast zeitgleich zu ähnlichen Geisterfahrungen, die durch evangelische Pfarrer aus den USA nach Deutschland getragen wurden. Eine zentrale Rolle spielte dabei das ökumenische Lebenszentrum „für die Einheit der Christen“ auf Schloss Craheim. Im Westen konstituierte sich 1979 die Geistliche Gemeinde-Erneuerung (GGE).
Parallel dazu kam es in der DDR zur verstärkten Offenheit für charismatische Erfahrungen durch Rüstzeiten und „Kirchenwochen“. Auch innerhalb der baptistischen und methodistischen Freikirche öffneten sich zahlreiche Gemeinden für die Impulse der „Erneuerung“. Wolfram Kopfermann (Hamburg), bis 1988 für die GGE verantwortlich, sprach die konkrete Erwartung aus, „dass Gott diesem Land einen Aufbruch schenken will“. Im Blick auf seine Kirche formulierte er: „Erweckung ist nicht eine Sondergestalt der Kirche, sondern ist Kirche nach dem Herzen Gottes, also normale Kirche.“ Und 1989 schrieb der bayerische Landesbischof Johannes Hanselmann: „Ich bin dankbar, dass diese Erneuerungsbewegung … in unseren Kirchen Heimat sucht und hoffentlich vermehrt findet.“
Frischer Wind in alten Kirchen
Die charismatische Bewegung hat einer ganzen Generation Hoffnung gemacht für Erneuerung auch innerhalb der bestehenden Kirchen und Konfessionen. Die Schlüsselerfahrung der „Erneuerung im Geist“, die Entdeckung von Charismen wie Sprachengebet, prophetisches Rede, Heilung und Befreiung gaben ungezählten Gruppen und Gemeinden neue Impulse. Damit einher ging eine Kultur des „Lobpreises“ und der Mut zu neuen Gottesdienstformaten. Ein bewusstes Rechnen mit Gottes Kraft fand seinen Ausdruck in Segnungsdiensten und Heilungsräumen. Damit ging ein neuer missionarischer Aufbruch einher, der zur Entwicklung von „Glaubenskursen“ führte, sodass die Charismatische Bewegung vielen Menschen eine neue oder erstmalige Begegnung mit Christus ermöglichte: „Lebensübergabe an Jesus Christus“ als christliche Grunderfahrung.
Durch den Impuls der Charismatischen Bewegung sind neben den verfassten Kirchen seit den 1980er-Jahren zugleich Hunderte von neuen Gemeinden und Initiativen entstanden. Dies führte neben zahlreichen Bekehrungen und einer zunehmenden Integration von Gläubigen mit Migrationshintergrund auch zu erheblichem „Transferwachstum“. In jedem Fall ist die kirchliche Landschaft hierzulande inzwischen deutlich vielfältiger und offener geworden.
Swen Schönheit (Berlin) ist Pfarrer i.R. und Vorsitzender der GGE-Deutschland
Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung aus: Swen Schönheit, Komm Geist Gottes (2023), S. 185-190

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