NEWSLETTER | August 2021

Wird das Kreuz langsam zerlegt?

von Swen Schönheit

Es war bei einem Pfarrkonvent kurz nach dem verheerenden Tsunami im Indischen Ozean, der zum Jahresende 2004 über 200.000 Menschenleben kostete. „Unsere gesamte Theologie wurde weggespült“, meinte einer meiner Kollegen, während wir das Geschehene miteinander reflektierten. Inzwischen erleben wir in Deutschland Fluten von neuem Ausmaß. Kleine Nebenflüsse haben in diesem Sommer mindestens 190 Menschen sintflutartig in den Tod gerissen. Müssen wir jedes Mal unsere Theologie ändern? Gibt es überhaupt von Gott her etwas zu sagen angesichts von Naturgewalten und sinnloser Zerstörung?

Unverzichtbar: Der mitfühlende Gott

„Gott ist mittendrin“, mit diesem Satz endet das Handlettering-Kunstwerk „Hints und Kunst“, das während des Gebetskonzerts www.hoffnungsschimmer21.de von Katharina Hailom erstellt wurde. „Gedenken – Beten – Geben“, unter diesem Dreiklang haben sich Christen unterschiedlicher Couleur angesichts der Flutkatastrophe am 28. Juli vereint. Inzwischen scheint es Konsens unter den meisten Christen zu sein, dass wir mit einem mitfühlenden Gott rechnen, der auf der Seite der Schwachen steht. Der berührt ist vom Schmerz dieser Welt. Der sich „mit den Gottlosen und Gottverlassenen identifiziert“, wie es Jürgen Moltmann 1972 in seinem wegweisen Buch „Der gekreuzigte Gott“ ausdrückte. Tatsächlich steht der provokante Titel für eine veränderte Sichtweise auf das Kreuz, die in der Reformation so noch kaum angelegt war: Im Leiden und Sterben seines Sohnes zeigt sich der Gott der Bibel als der mitfühlende, „sympathische“ Gott. „Der Vater gibt seinen Sohn am Kreuz dahin“, schreibt Moltmann, um der Vater „der Dahingegebenen“ zu werden. Wenn wir als Christen mit Empathie reagieren, wenn wir anderen Menschen in ihrem Leid nahe sind, hat dies seinen Ursprung im Leiden des Gekreuzigten: Hier stellt sich Gott endgültig auf unsere Ebene (vgl. Philipper 2,5-11).

Erlösung durch das Kreuz: ein Auslaufmodell?

Aber geht darüber nicht ein anderer Aspekt verloren, der für die Briefe des Neuen Testaments zentral war? Paulus war sich wohl bewusst, dass „die Botschaft vom Kreuz für die Juden eine Gotteslästerung und für die Griechen blanker Unsinn“ sein musste. Doch für ihn lag, seit er zum Glauben an den Messias Jesus gekommen war, gerade darin „Gottes Kraft und Gottes Weisheit“ (1 Korinther 1,18-24). Martin Luther hat wieder ins Zentrum gerückt, was für die Kirche zu allen Zeiten zentral bleiben muss: Der Glaube an die Gnade Gottes, die sich im gekreuzigten und auferstandenen Christus zeigt. Im Kleinen Katechismus (1529) formuliert der Reformator die Gewissheit, dass Jesus Christus „mich verlorenen und verdammten Menschen erlöst hat … von allen Sünden, vom Tod und der Gewalt des Teufels … mit seinem heiligen teuren Blut.“ Großartig dargestellt hat Lucas Cranach d. Ä. diese Fokussierung Luthers auf den Gekreuzigten mit seinem Altarbild in der Wittenberger Stadtkirche (1547). Nach 500 Jahren stellt sich die Frage: Steht diese Überzeugung der Reformation heute noch im Zentrum evangelischer Verkündigung?

Besonders während der Pandemie waren die Äußerungen von führenden Kirchenvertretern primär von der Sprache der Betroffenheit geprägt. Man fühle mit und sei den Menschen nahe. Und man appellierte an Verständnis füreinander. Die Botschaft von der Hoffnung auf das ewige Leben war kaum zu vernehmen. Der gekreuzigte und auferstandene Christus als „Heiland“ in Krankheits- und Todesnot? Fehlanzeige. Katholischen Bischöfen scheint es immer noch leichter zu fallen, wenigsten den Namen Jesus zu erwähnen. Doch „die Botschaft vom Kreuz“ im Raum der Kirche. Damit verliert sich „Gottes Kraft“ und reduziert sich selbst zu einer Agentur der Mitmenschlichkeit.

Brauchen wir Gott nur noch für dieses Leben?

Lehrt die Bibel nicht, dass es Größeres gibt als das irdische Leben und Gesundheit? Dass wir mit dem Abschied von dieser Erde vor dem lebendigen Gott stehen werden? Dass Christus wiederkommen wird, „zu richten die Toten und Lebenden“ (Glaubensbekenntnis)? Wird noch geglaubt, dass Jesus uns durch sein Sterben am Kreuz „vor dem Zorn Gottes errettet“ (Römer 5,9)? Im Römerbrief, dem großen Impulsgeber der Reformation, spricht Paulus gleich zehnmal vom „Zorn“ Gottes … Aber das passt nicht in die Zeit: Wir wollen den mitfühlenden Gott. Nicht den gerechten Gott, der seinen Sohn an unserer Stelle in den Tod gibt, um uns zu retten von der Sünde, der tödlichen Krankheit, die uns das ewige Leben verfehlen lässt.

„Jesus ist nicht für uns gestorben, sondern Jesus hat für uns gelebt“, erklärte Prof. Klaus-Peter Jörns 2009 im Deutschlandfunk zu seinem Buch „Notwendige Abschiede“ (20.06.2009). Der Zuspruch „Christi Blut für dich vergossen!“ wird somit zur leeren Formel. Sicherlich steht solch eine zugespitzte Ansicht nicht für den kirchlichen Konsens, aber die Richtung ist klar: Das Kreuz wirkt auch für uns heute anstößig wie zur Zeit des Neuen Testaments. Als Paulus im Brief an die Philipper von den „Feinden des Kreuzes Christi“ schrieb, liefen ihm die Tränen übers Gesicht (Philipper 3,18). Würden ihm auch heute die Tränen kommen, wenn er sich im Raum der Kirche umhörte?

Wir brauchen das ganze Kreuz!

Dieses merkwürdige Symbol, von dem schon der römische Dichter Cicero sagte, man sollte es am besten nicht einmal erwähnen, enthält eine Menge Weisheit. Zwei Balken, die sich kreuzen, kann jedes Kind malen. Später lernt es den entscheidenden Unterschied zwischen minus und plus. Gott setzt uns „vom Minus ins Plus“ – und das gratis, aus lauter Gnade!

Wir brauchen beide Dimensionen: die vertikale und die horizontale. Auf der einen Seite stellt Jesus durch seinen Opfertod die Gemeinschaft mit Gott wieder her. Wir empfangen Vergebung, werden „für gerecht erklärt“ und finden „Frieden mit Gott“ (Römer 5,1). Auf der anderen Seite geht vom Kreuz die Kraft zur Versöhnung aus: Gott verbindet Menschen, die sonst nicht (mehr) zusammenkommen würden. Beide Achsen sind entscheidend für unser Leben! Wenn das Kreuz zerlegt wird, verliert es seine Kraft. Doch für alle, die es als Ganzes nehmen, entfaltet es „Gottes Kraft und Gottes Weisheit“.

Swen Schönheit | August 2021

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