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Mit dem Heiligen Geist auf dem Friedhof
von Swen Schönheit
Beruflich muss ich dort nicht mehr hin, und doch zieht es mich immer wieder auf Friedhöfe: vor allem auf alte mit ihrem historischen, manchmal verfallenen Gräbern. Rund 500-mal stand ich in meinem Pfarrdienst am offenen Grab, versuchte mich auf Menschen unterschiedlichster Herkunft einzustellen, zu trösten und die richtigen Worte zu finden. Trotz aller Routine: Ich habe diesen Dienst gerne getan und gerade an der Grenze des Lebens in besonderer Weise den Heiligen Geist erlebt. Schließlich hat Jesus seinen Jüngern den „Tröster“, Seinen Geist als „Beistand“ verheißen (Johannes 14 bis 16)!
Im Rahmen von Bestattungen erleben wir noch am stärksten die Reste einer Volkskirche. Der Beistand eines/einer „Geistlichen“ ist gefragt! Allerdings macht der Anteil der religiösen Bestattungen inzwischen bundesweit weniger als die Hälfte aus (Anfang der 2000er Jahre lag er bei rund 70 %). In Berlin dürfte er bei einem Drittel liegen, obwohl wir die „friedhofsreichste Stadt Europas“ sind! Selbst unter den evangelischen Kirchenmitgliedern wünschen bundesweit nur noch 72 % eine kirchliche Beisetzung. Vor 40 Jahren waren es noch 82 %, so die letzte Untersuchung zur Kirchenmitgliedschaft (KMU 6).
In meinem Dienst als Pfarrer war in den letzten Jahren alles dabei: von den gut betuchten Mantelträgern bei der Bestattung eines Schauspielers, über das voll besetzte Krematorium beim Abschied von einem Architekten, nach dem inzwischen eine Straße benannt ist, bis hin zu den einfach gestrickten Leuten, die in Jogginghose und mit Goldkettchen auf dem Friedhof erscheinen. Doch vor Gott gilt am Ende „kein Ansehen der Person“ (Römer 2,11; Galater 2,6)!
Und dann kam die Beisetzung von Lieselotte. Sie hatte sich schon Jahre zuvor gewünscht, dass ich sie einmal beerdigen möge. Aber schließlich stand ich mit den Sargträgern und der Bestatterin allein am Grab. Zum großen Friedhof in Berlin Lichtenberg, wo auch die Helden des Sozialismus ihre Gedenkstätte haben, war ich mit dem Fahrrad gekommen. Lieselotte kam in den 1990er Jahren in meine Bibelstunde, doch am Ende starb sie einsam. Allerdings hielt sie bis zuletzt an Jesus fest. Was sollte ich sagen? Über das offene Grab hinweg entwickelte sich ein offenes Gespräch mit der Bestatterin über den christlichen Glauben.
Ja, am Ende scheiden sich die Geister: Wer geht arm, wer geht reich? Wer war beliebt, wer scheint vergessen? Und vor allem: Wohin gehen wir eigentlich? Diese Frage gehört zu den großen Rätseln der Menschheit. Regelmäßig habe ich diese Frage im Beerdigungsgespräch aufgeworfen. Meistens gegenüber Menschen, die ich zuvor nie gesehen hatte, und die ich nun zuhause aufsuchte. Die Antworten habe ich mir notiert. Machten sie mir, einem jungem Pfarrer in den 1990er Jahren, doch schnell deutlich: Unsere Nachbarn sind moderne Heiden, die jede kirchliche Tradition hinter sich gelassen haben. So wurde jede Amtshandlung eine Erstbegegnung und meisten eine einzigartige Gelegenheit, „die Kirche ins Haus zu bringen“.
Mit dem Heiligen Geist auf dem Friedhof? Als „Tröster“ kann er jedes Format füllen, auch eine kirchliche Amtshandlung, um Gottes Liebe in verzagte oder verunsicherte Herzen zu bringen. Doch was glauben unsere Nachbarn eigentlich im Blick auf Tod und Ewigkeit) Wie stehen sie zu der meistens verdrängten Frage, was „danach“ kommt? Der Vati ist jetzt „da oben bei den Sternen“, der Opa „ist jetzt bei den Engeln und hilft uns“, meinten einige der Hinterbliebenen. Andere gaben sich als „Realist“ aus und waren der Meinung: „Wenn man stirbt, ist alles vorbei!“ Die Mehrheit der Zeitgenossen hofft jedoch „auf eine bessere Welt“, dass „die Seele bleibt, so eine Art Energie“.
Zum Abschied brechen manchmal auch alte Wunden auf. Unverarbeitete Lebensgeschichten stehen im Raum, haben Familien entzweit, machen sprachlos. „Peter, wie konntest du uns das nur antun, dem Pfarrer zu verschweigen, dass du noch einen Bruder hast!“ So werde ich aus den Reihen heraus mitten bei der Beerdigungsansprache unterbrochen. Manchmal brauchte man als Pfarrer geradezu detektivische Fähigkeiten – und doch bleibt am Ende vieles verborgen.
Und dann war da noch Herr K. Nachdem seine Frau 2016 gestorben war, besuchte ich ihn zuhause im 12. Stock eines Hochhauses. Im Gespräch lud ich ihn auch zu unserem Gottesdienst ein, „wo wir bei den Ansagen auch Ihrer Frau gedenken“. Obwohl er seit Jahrzehnten in derselben Wohnung wohnte und unserer Kirche aufs Dach blicken konnte, wusste er nicht, wo hier eine Kirche war. Er kam. Und er kam immer wieder, brachte sogar einen Freund mit. Die beiden kamen regelmäßig und wuchsen in die Seniorenarbeit hinein. Schließlich erkrankte Herr K. an Krebs. Ich war nach meiner Verabschiedung 2018 noch einmal zu Gast in der Apostel-Petrus-Gemeinde. Vor dem Gottesdienst ging ich auf ihn zu, habe ihn kurz gesegnet und ein Kreuzeszeichen auf seine Stirn gemacht. Er hatte Tränen in den Augen. Das war meine letzte Begegnung … Wie ich hörte, starb er einige Zeit später im Frieden. Der Heilige Geist wirkt auch an Menschen, die der Kirche längst entfremdet waren!
„Der Auftrag der Kirche … besteht darin, an Christi Statt … die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“, heißt es in der 6. These der „Barmer Erklärung“, die vor 90 Jahren in dunklen Zeiten publiziert wurde. Unser Auftrag hat sich bis heute nicht verändert – auch nicht auf dem Friedhof!
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