THEOLOGISCHE ENTWICKLUNGEN SEIT DER AUFKLÄRUNG
Vortrag an der „Schule für Evangelisation“ in Altensteig 1981
von Swen Schönheit
1. DIE AUFKLÄRUNG: WEICHENSTELLUNGEN FÜR DIE THEOLOGIE
1. Das 18. Jahrhundert war eine Zeit der Emanzipation des menschlichen Geistes; ähnlich wie der Mensch sich in der Pubertät seines eigenen Daseins bewusst wird, tritt das Menschengeschlecht nun seiner eigenen Existenz gegenüber. Man verlässt den großen Seins-Zusammenhang, in dem sich der mittelalterliche Mensch geborgen wusste.
2. Damit verbunden war eine Entdeckung der eigenen Traditionen, von denen der Einzelne bisher getragen und gehalten war. „Zu den Quellen“ lautet der Ruf der Aufklärung. Für die Bibelwissenschaft bedeutete dies einen großen Aufschwung der Philologie. Zusammen mit den biblischen Quellen wird das Erbe der Antike neu entdeckt.
3. Die Folge davon musste jedoch eine innere Lösung von der traditionellen Kirchenlehre sein. Man spürt Differenzen zwischen dem Wort der Bibel und hergebrachten Dogmen auf; das Dogma wird bald schon als einengend empfunden und abgeschüttelt. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, formuliert Immanuel KANT. In der Theologie treten Dogmatik und Exegese somit auseinander (erstmals bei Johann Salomo SEMMLER). Die Konsequenz ist eine ungeheure Freisetzung der Bibelforschung: Es entsteht die kritische Exegese.
4. Kennzeichnend für die Aufklärung ist ein optimistisches Menschenbild. Den Schatten des 30-jährigen Krieges (1618-1648) folgt ein Jahrhundert der Lebensbejahung und der Suche nach der Entfaltung eines befreiten Menschseins, unter den Kategorien der Natur und des Schönen. Als Ziel rückt die moralische Vollkommenheit in den Mittelpunkt; eine Zwischenstufe auf dem Weg dahin ist die biblische Offenbarung. Die Bibel wird also primär auf Vernunftwahrheiten hin befragt, wobei die eigentliche Heilsgeschichte zurücktritt. Denn „zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden“ (Gotthold Ephraim LESSING). Was die Bibel an „Offenbarung“ enthält, liegt im Grunde schon als Vernunftwahrheit im Menschen. Es zählt, was sich aus ihr zur „Erziehung des Menschengeschlechts“ (Lessing) verwenden lässt. Theologische Entwicklungen …
5. Dabei werden Altes und Neues Testament nur noch isoliert betrachtet (zuerst bei Johann Philipp GABLER, 1753-1826), als zwei verschiedenen Religionsbereichen zugehörend. Indem beide Testamente auf die in ihnen enthaltenen Ideen hin befragt werden, muss das Alte notwendig abgewertet werden, als überwundene Vorstufe. Theologie wird zunehmend als (jüdische bzw. urchristlich-hellenistische) Religionsgeschichte verstanden, wobei der Maßstab zur Beurteilung die „natürliche Religion“ des neuzeitlichen Menschen ist (zuerst bei Georg Lorenz BAUER, 1755-1806).
6. Ihren Höhepunkt findet die moralisch-vernünftige Auslegung bei Immanuel KANT (1724-1804). Nach Kant kann Gottes Existenz mit der Vernunft weder bewiesen noch widerlegt werden, denn die Grenzen unserer Vernunft liegen da, wo der Bereich möglicher Erfahrungen aufhört. Insofern ist auch das Reden von einem Handeln Gottes im Raum von Welt und Geschichte unvernünftig, unwissen-schaftlich und überholt. Doch Kant will durchaus nicht auf Gottes Existenz verzichten: Lässt sich die Religion vom Wissen her nicht begründen, so doch vom Handeln her; sittliches Handeln ist praktische Gottesbejahung. Die Moral ist nämlich das Ursprüngliche; und ist die Religion vom Wissen her auch nicht begründen, so doch vom Handeln her; sittliches Handeln ist praktische Gottesbejahung. Die Moral ist nämlich das Ursprüngliche, und die Religion das Hinzukommende. Der Mensch „entscheidet“ sich für Gottes Dasein, weil sonst sein sittliches Handeln sinnlos wäre.
Als Bibelleser macht sich Kant nun auf, „in der Schrift denjenigen Sinn zu suchen, der mit dem Heiligsten, was die Vernunft lehrt, in Harmonie steht.“ Das, was Gott in den natürlichen Menschen an Vernunftwahrheiten hineingelegt hat, wird also beim Studium der Schrift wiederentdeckt. Allerdings ist dabei kaum etwas Neues zu erwarten; bzw. das Unannehmbare wird ausgeschieden. „Aus der Trinitätslehre“ z.B., sagt Kant, „lässt sich schlechterdings nichts fürs Praktische machen.“ Denn „unter Glaubenssätzen versteht man nicht, was geglaubt werden soll, sondern das, was in praktischer Absicht anzunehmen möglich und zweckmäßig ist, mithin nur geglaubt werden kann.“ Daran gemessen also wäre die Trinitätslehre „gar kein Stück der Religion.“ Auch auf Jesus will Kant nicht verzichten: Er steht als das Urbild moralischer Vollkommenheit vor uns, und insofern sollen wir ihm folgen.
Unter dem Einfluss von Kant geschehen die bis heute folgenreichsten Weichenstellungen: Theologie wird auf ein anthropologisches Fundament gestellt, wird letztlich Moral. Das Wirken Gottes wird aus dem Bereich der Geschichte verbannt und auf die Innerlichkeit bzw. die Moral beschränkt, und d.h. Gott wird welt-los, die Welt aber wird gott-los! Kant lebte wohl mit einem religiösen Bedürfnis und kannte persönliche Frömmigkeit, und deshalb scheute er davor zurück, Gott auch noch aus dem Bereich der Moral zu verdrängen. Dies geschah später z.B. im Existentialismus!
7. Als Konsequenz der Philosophie Kants entsteht eine Theologie der Innerlichkeit, es kommt zum religiösen Individualismus (auch der Pietismus ist davon betroffen!). Andererseits entfällt nun das Sein Gottes als Voraussetzung aller Naturerkenntnis und Wissenschaft (wie z.B. bei THOMAS von Aquin), und es entfaltet sich die neuzeitliche, gott-lose und somit autonome Naturwissenschaft. Die neue Fragestellung der Theologie heißt nun: Wie lässt sich (noch) vom Reden und Handeln Gottes sprechen, sodass es mit unserem Weltbild übereinstimmt? Wie muss ich (früher: die Kirche!) die Bibel verstehen, und wie ist sie dem neuzeitlichen Menschen zumutbar? Was sagt mir der Text …? Die Bibel rückt also gewissermaßen auf die Anklagebank.
8. Albrecht RITSCHL (1822-1889) z.B. hält – als Nachfolger Kants – jedes Wissen von Gott für unmöglich, aber ein solches ist auch gar nicht nötig! Denn in der Theologie gibt es nur Urteile, die praktischen Wert für uns haben und von moralischer Bedeutung sind. „Das, was Gott oder göttlich ist, können wir auch dem Wesen nach nur erkennen, indem wir seinen Wert zu unserer Seligkeit feststellen.“ So lässt sich z.B. nach dem Zweck der Religionsgemeinschaft, die Jesus gründete, fragen. Theologische Entwicklungen …
Und die Bedeutung seines Leidens liegt in dem „bewährten Berufsgehorsam gegen Gott.“ „Außerhalb dieses Werturteils durch den Glauben findet keine Erkenntnis Gottes statt. … Eine rein theoretische ‚uninteressierte‘ Erkenntnis Gottes ist also auch nicht als die etwa notwendige Voraussetzung der Glaubenserkenntnis zu erstreben … Vielmehr erkennt man das Wesen Gottes oder Christi nur innerhalb ihres Wertes für uns.“
Ritschl hielt wohl das Christentum für die höchste Religionsstufe, aber weitgehend war dieses „Christentum“ deckungsgleich mit dem bürgerlichen Protestantismus der 19. Jahrhunderts. Darüber jedoch später mehr im Zusammenhang mit der liberalen Theologie!
2. DIE HISTORISCH-KRITISCHE METHODE
Mit der Emanzipation vom kirchlichen Dogma war die kritische und absichtslose Erforschung der Bibel entfesselt: Es musste dabei ja nicht das herauskommen, was die Tradition lehrte! So fordert William WREDE (1859-1906) vom Ausleger ein „reines uninteressiertes Erkenntnisinteresse“, „das jedes sich aufdrängende Ergebnis annimmt.“ Theologie wird hier als Religionsgeschichte gesehen, deren Aufgabe Erforschung des Urchristentums und seiner Glaubensweise ist. Es gibt im Grunde nur geschichtliche Dokumente, aber keine inspirierten Bibeltexte. Ähnlich formuliert Franz OVERBECK (1837-1905): „Es gibt für wissenschaftliche Exegese keinen Unterschied heiliger und unheiliger Texte.“ Ja, man darf bei der Lektüre des Neuen Testamentes nicht über die historische Fragestellung hinausgehen, denn „nur die helle Kritik der Wissenschaft macht den Ausleger wirklich frei.“ Dabei wird natürlich ein neutraler, wertfreier Wissenschaftsbegriff vorausgesetzt, den es so nie wirklich gab. Zum Maß aller Dinge war die autonome, „erleuchtete“ Vernunft des Menschen geworden! Tatsächlich hat diese Epoche grundlegenden Ergebnisse zutage gefördert, die noch heute weitgehend anerkannt werden:
- Im Pentateuch sind verschiedene Quellen ineinander gearbeitet (Ältere Urkundenhypothese bei Jean ASTRUC, 1752)
- Abtrennung von Jesaja 40-55 als „Deutero-Jesaja“ (seit Bernhard DUHM, 1892 allgemein anerkannt)
- Matthäus und Lukas haben Markus als Vorlage benutzt (Carl LACHMANN, 1835) usw.
Andere Fragen, die im 18. und 19. Jahrhundert aufgeworfen werden, sind bis heute umstritten: Sind die überlieferten Worte der Propheten sowie die Worte Jesu „echt“? Welche Briefe stammen wirklich von Paulus? Wieweit sind in den Evangelien historische Tatsachen berichtet? usw. Einen Schock sozusagen bedeutete – vor allem für die württembergischen Pietisten – ein neues Buch des Tübinger Theologen David Friedrich STRAUSS: „Das Leben Jesu, kritisch betrachtet“ (1835/36). „Die ganze Geschichte Jesu“ ist nach Strauß „darauf anzusehen, ob es nicht Mythisches an sich habe. … Es muss … erst untersucht werden, ob und wie weit wir überhaupt in den Evangelien auf historischem Grund und Boden stehen.“
Hier wird das Zauberwort „Mythos“ in die Exegese eingeführt (im Gegensatz zur Historie!), das bei BULTMANN schließlich seine volle Wirkung entfaltet. „Alle Ideen, welche die erste Christenheit über ihren entrissenen Meister hatte, wurden in Tatsachen verwandelt, seinem Lebenslauf eingewoben.“ Die „Mythen“ des NT werden verstanden als „geschichtsartige Einkleidungen urchristlicher Ideen, gebildet in der absichtslos dichtenden Sage.“ Von dieser Sicht her kann es nun keinen Glauben mehr an Jesus geben, vielmehr „vereinen sich in ihm Gottes Geist und das menschliche, religiöse Bewusstsein“ (im Sinne HEGELs als Synthese!). Strauß räumt ein, dass diese Erkenntnisse radikal und ernüchternd seien, doch dem Pfarrer rät er, sich der Gemeinde gegenüber anzupassen und das Dilemma durchzustehen. Gelingt es ihm nicht, müsste er allerdings seinen Beruf aufgeben! Spätestens hier brechen nun Glaube und wissenschaftliche Exegese auseinander. Es kommt zu der sprichwörtlichen Polarität „theologisch / historisch“. Die zeitgebundene, mythologische Einkleidung ist als historisch irrelevant fallen zu lassen, während die zeitlos gültige christliche Idee festgehalten wird. Wiederum wird sich bei BULTMANN das gleiche Schema zeigen.
Sozusagen der „Chefideologe“ der historisch-kritischen Methode wurde Ernst TROELTSCH (1865-1923). Er fasste die bereits übliche Praxis kritischer Bibelauslegung in einem geschlossenen System zusammen. Seine Forderung lautet, die gesamte Theologie nach historisch-kritischem Denken neu zu gestalten: „Die historische Methode muss in der Theologie mit voller, unbefangener Konsequenz durchgeführt werden. Es entsteht also die Forderung eines Aufbaus der Theologie auf historischer, universalgeschichtlicher Methode …, auf religionsgeschichtlicher Methode.“ Troeltsch sollte recht behalten, dass „die historische Methode … ein Sauerteig“ sein würde, „der alles verwandelt und der schließlich die ganze Form theologischer Methoden zersprengt.“ Nach drei Grundsätzen ist nun der biblische Text auszulegen:
1. „Die prinzipielle Gewöhnung an historische Kritik.“ Dies bedeutet, „dass es auf historischem Gebiet nur Wahrscheinlichkeitsurteile gibt, von sehr verschiedenen Graden der Wahrscheinlichkeit.“ Der biblischen Überlieferung kommt keine besondere Rolle zu neben aller übrigen Überlieferung. Historisch – wirklich ist nur das, was in den Augen des Forschers möglich ist.
2. „Das Mittel, wodurch Kritik überhaupt möglich wird, ist die Anwendung der Analogie.“ Troeltsch spricht sogar von „Allmacht der Analogie.“ Damit ist „die prinzipielle Gleichartigkeit alles historischen Geschehens“ eingeschlossen. „Die Übereinstimmung mit normalen, gewöhnlichen oder doch mehrfach bezeugten Vorgangsweisen und Zuständen, wie wir sie kennen, ist das Kennzeichen der Wahrschein-lichkeit für die Vorgänge, die die Kritik als wirklich geschehen aberkennen oder übrig lassen kann.“ Ereignisse, zu denen sich keine Analogie finden lässt, können nur unhistorisch, unwirklich und d.h. erfunden sein.
3. Der Grundsatz der Korrelation alles Geschehens bedeutet, dass „Alles und Jedes zusammenhängt und jeder Vorgang in Relation zu anderen steht.“ Hier ist letztlich die in sich folgerichtige und vernünftige Entwicklung der gesamten Geschichte als eines großen Zusammenhanges vorausgesetzt: „Geschichte als Entfaltung der göttlichen Vernunft“, ohne Brüche und Sprünge. Das Christentum erscheint dann bei Troeltsch im liberalen Sinne als „höchste sittliche religiöse Macht“, sodass er sogar von „Absolutheit des Christentums“ reden konnte.
Unter dem Absolutheitsanspruch der neuen „Methode“ (die sich als geschlossen und umfassend ausgab!) entwickelt sich nun eine umwälzende Textforschung am Alten und Neuen Testament. Bis heute stehen die damals aufgerissenen Fragen im Raum. Das biblische Wort wurde in einen fremden Rahmen hineingezwängt. Vom dogmatischen „Überbau“ gelöst, wurde es nun unter geschichtsphilo-sophischen Kategorien beleuchtet. Im Wesentlichen hatte hier Georg Friedrich HEGEL (1770-1831) die Denkkategorien geliefert. Die ganze Geschichte war für ihn eine gigantische Selbstentfaltung des Geistes nach dem Schema These – Antithese – Synthese. Davon inspiriert sah z.B. Julius WELLHAUSEN das ganze AT unter dem Aspekt der Ideengeschichte, in Beziehung gesetzt zum „Christentum“. Geschichte Israels war davon völlig gelöst. Für das NT fand etwa Ferdinand Christian BAUR in Tübingen einen grundsätzlichen Unterschiede zwischen der Religion Jesu und der des Paulus. Die verschiedenen Evangelien und Briefe seien Ausdruck einander bekämpfender theologischer Schulen.
Die Exegese verliert sich nun – mit einem umfangreichen philologischen Apparat im Rücken – in der Ausgrenzung kleinster Texteinheiten, die auf literarische Form, „Echtheit“ und Absicht des Verfassers hin gefragt werden. Ernst Troeltsch folgend spürt man die entlegensten religionsgeschichtlichen Analogien auf und sucht etwaige Ableitungen zu rekonstruieren. Daraus entwickelt sich die Religionsgeschichtliche Forschung. Zum Schöpfungsbericht entdeckt man die babylonische Entspre-chung. Für die Psalmen (z.B. Psalm 104) finden sich ägyptische Parallelen. Zum Weinwunder in Johannes 2 lässt sich das analoge Dionysos-Weinwunder ausfindig machen. In den Briefen des Paulus (z.B. 1.Korinter 12, Kolosser 1) scheinen Vorstellungen der Gnosis übernommen zu sein, usw.
Vieles an biblischer Überlieferung kann dem Analogie – Korrelation – Prinzip natürlich nicht standhal-ten. Die Wunder Jesu und seine Auferstehung haben im neuzeitlichen Weltbild keinen Platz und können somit nur als „Mythen“ angesprochen werden. Historisch ist lediglich der Glaube der Jünger! Nach Johannes WEISS (1917) sind die Ostererscheinungen „nicht, wie es (den Jüngern) damals schien, der Grund, sondern eine Wirkung ihres Glaubens. Die moderne Betrachtung kann diese Erlebnisse der Jünger nur als ‚Vision‘ ansehen.“
3. DIE LIBERALE THEOLOGIE: „AN JESUS“ ODER „WIE JESUS GLAUBEN“?
Die liberale Theologie im „klassischen Sinne“ ist vorbei. Wenn allerdings heute Heinz ZAHRNT formuliert: „Während frühere Generationen den Akzent vor allem darauf gelegt haben, dass Christus die Menschen vor Gott vertritt, legen wir heute den Wert darauf, dass Jesus Gott vor den Menschen vertritt,“ so ist das nichts anderes als eine Neuauflage des liberalen Jesusbildes! Im Grund war die liberale Theologie eine typische Erscheinung des wilhelminischen Kaiserdeutschlands; und so hat sie auch den ersten Weltkrieg mit ihrem optimistischen Menschenbild nicht überlebt. Tatsächlich lebte sie in den bürgerlichen Kreisen des „anständigen“ Menschen. Hier spricht ein letztes Mal das Abendland sein christliches Selbstverständnis aus. Hatte die historisch-kritische Methode die biblische Substanz Stück für Stück ausgehöhlt, so wollte man doch die Ideen des Christentums nicht preisgeben.
Als Beispiel nenne ich Adolph von HARNACK (1851-1931). Im Winter 1899/1900 hielt er – als einer der bedeutendsten Professoren Berlins – die Vorlesungen über „Das Wesen des Christentums“. Mit einer Auflage von 100.000 Exemplaren wurde dieses Standartwerk zum Aushängeschild deutscher Theologie, das seinen Einfluss auch im Ausland hatte. „Gibt es noch eine andere Theologie als jene, die in fester Verbindung und Blutsverwandtschaft steht mit der Wissenschaft überhaupt?“ fragt Harnack. In diesem Sinne wird die ganze Geschichte des Christentums aufbereitet, um das Evangelium darzustel-len, das nicht eine von vielen, sondern „die Religion selbst“ ist. Man kann nun die „ganze Verkündigung Jesu auf diese beiden Stücke zurückführen: Gott als der Vater, und die menschliche Seele so geadelt, dass sie sich mit ihm zusammenschließen vermag.“ Das Reich Gottes wird dabei ausgesprochen individualistisch verstanden als ein innerseelischer Zustand des Friedens und der Freiheit. Allen, die Menschenantlitz tragen, ruft Jesus zu: Ihr seid Kinder des lebendigen Gottes. Doch: „Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium, wie es Jesus verkündigt hat, hinein.“ Wichtig ist also nicht „Christologie“, von der doch der einfache Zöllner, der verlorene Sohn oder die große Sünderin gar nichts wussten. Es geht um die einfache Verkündigung Jesu, und so ist das Evangelium Lehre „nur insofern, als es die Wirklichkeit Gottes des Vaters lehrt.“
Jesus tritt somit völlig hinter der Botschaft zurück, die er brachte; er führt zu Gott als der, der den Vater in einzigartiger Weise erkannte und nun den Menschen diese Erkenntnis bringt. „Nicht wie ein Bestandteil gehört er in das Evangelium hinein, sondern er ist die persönliche Verwirklichung und die Kraft des Evangeliums gewesen und wird noch immer als solche empfunden.“ Harnack bot mit seiner Theologie tatsächlich ein positives und attraktives Evangelium an, „mit dem er“, wie Albert SCHWEITZER bemerkte, „ohne Schwierigkeiten bis ins Jahr 1899 kommt.“ Aber Glaube an Jesus und Gebet zu ihm konnte es von diesem Ansatz aus nicht mehr geben. Kein Wunder, dass Harnack für Erweckungsprediger nur Spott übrig hatte; ähnlich wie heute mancher Liberale für den Pietismus!
4. RUDOLF BULTMANN (1884-1976)
In den 1960er Jahren wurde Rudolf BULTMANN zum Aushängeschild „moderner“ Theologie und damit vor allem für den Pietismus zum Schreckensbild. Gerhard BERGMANN schlug damals „Alarm um die Bibel“ (1963). Heute gehört das Konzept Bultmanns an den Universitäten mehr und mehr der Theologiegeschichte an, beherrscht aber (mindestens unbewusst) die Predigten vieler amtierender Pfarrer. Obwohl er in seiner Weise versuchte, die liberale Theologie zu überwinden, blieb Bultmann letztlich ihren Denkstrukturen verhaftet. Die Verschiebung liegt darin, dass Jesus als menschliches Vorbild so gut wie uninteressant ist (denn über ihn als historische Person wissen wir fast nichts!), wohl aber als Verkündiger eine Rolle spielt. Entscheidend ist, wofür er sich einsetzte. Also nicht an den Verkündiger, sondern an den Verkündigten haben wir zu glauben!
In den 1920er Jahren verbündete sich Bultmann mit der Existenzphilosophie Martin HEIDEGGERs, deren Analyse er für wertneutral und mit dem NT in Harmonie stehend ansah! Das Entscheidende bei der Lektüre der Bibel ist das neue Selbstverständnis, das dem Menschen aus dem Text entgegenspricht und für das er sich zu entscheiden hat. 1941 erschien das Programm der Entmythologisierung, das in das theologische Vakuum nach dem Weltkrieg einströmte und die 1950er Jahre maßgeblich prägte. Ab 1955 spaltete sich die Schule Bultmanns, vor allem durch die Rückfrage nach dem „historische Jesus“ (Ernst KÄSEMANN). Was aber bedeutet nun „Entmythologisierung“ für Bultmann?
„Das Weltbild des Neuen Testamentes ist ein mythisches.“ „Mythologisch ist die Vorstellungsweise, in der das Unweltliche, Göttliche als Weltliches, Menschliches, das Jenseitige als Diesseitiges erscheint.“ Doch dieses Weltbild ist dem modernen, von Technik geprägten Menschen nicht mehr zuzumuten, und man kann nicht von ihm verlangen, die Rede von Himmel, Hölle, Geistern und Dämonen zu übernehmen. „Erledigt sind damit die Geschichten von der Himmel- und Höllenfahrt Christi … Erledigt ist durch die Kenntnis der Kräfte und Gesetze der Natur der Geister- und Dämonenglaube … Die Wunder des Neuen Testaments sind damit als Wunder erledigt.“ Das heißt aber nicht, dass diese Geschichten einfach zu streichen sind, denn „der Mythos will … anthropologisch – besser: existential interpretiert werden.“ Jede Aussage über Gott ist für Bultmann im Grunde eine Aussage über den Menschen, ja: „Wenn gefragt wird, wie ein Reden von Gott möglich sein kann, so muss geantwortet werden: nur als Reden von uns.“
Hier wird ein bestimmter Glaubensbegriff erkennbar: Der Glaube soll aller falscher Sicherheiten entkleidet werden; er soll nicht auf „verobjektivierte“ Geschichtstatsachen gegründet sein („beglaubi-gendes Mirakel“). Der Mensch, der an Gott glauben will, ist „gleichsam in die Luft gestellt.“ Darum muss die Botschaft der Bibel (das „Kerygma“) natürlich vom antiken Weltbild befreit werden (wenn es das antike Weltbild überhaupt jemals gab!), denn dieses wäre ja nur ein falscher Anstoß für den
modernen Menschen! Konsequenterweise gibt es für Bultmann kaum noch so etwas wie Heilsge-schichte, und das Alte Testament fällt völlig hinten herunter. Dafür wird das Neue Testament umso hemmungsloser von hellenistischen Parallelen her interpretiert: Abendmahl und Taufe der Urgemeinde weisen die Übernahme von den antiken Mysterienkulten auf, und Paulus ist maßgeblich von der Gnosis beeinflusst. Dass die Kirchenväter in den Kultmalen der Mysterien eine Imitation des Teufels sahen und in der Gnosis eine gefährliche antichristliche Bedrohung der Kirche, spielt für Bultmanns Betrachtungsweise keinerlei Rolle! Für die Verkündigung Jesus gilt, dass die meisten Worte in den ersten drei Evangelien wohl sowieso ein Produkt der Urgemeinde sind, und „das Johannesevan-gelium kommt als Quelle für die Verkündigung Jesu wohl überhaupt nicht in Betracht.“
Das ist nun für Bultmann keineswegs erschütternd, denn Theologie beginnt erst mit der Verkündigung der Urgemeinde. Das Auftreten Jesu ist zwar eine (von mehreren!) Voraussetzungen dazu, aber kein Bestandteil der neutestamentlichen Theologie. Überhaupt hat Bultmann nie verschwiegen, dass er an dem Jesus „nach dem Fleisch“ völlig uninteressiert ist: „Es braucht inhaltlich von Jesus nichts gelehrt zu werden als dieses Dass in seinem historischen Leben einen Anfang nahm und in der Predigt der Gemeinde weiter Ereignis wird.“ „Ich persönlich bin der Meinung, dass Jesus sich nicht für den Messias gehalten hat.“ Historisch gesehen ist er ein Prophet gewesen, und ob er in seinem Tod „einen Sinn gefunden hat, können wir nicht wissen. Die Möglichkeit, dass er zusammengebrochen ist, darf man sich nicht verschleiern.“ So ist ja auch das Reden von einem Sühnetod mit dem mythologischen Weltbild zusammen nicht zu übernehmen. Doch „die Gemeinde musste das Ärgernis des Kreuzes überwinden und hat es getan im Osterglauben.“ Wohlgemerkt: Nur der Osterglaube, nicht das Osterereignis kann historisch genannt werden! „Die Tatsache der Auferstehung kann nicht als ein objektiv feststellbares Faktum, auf das man hin glauben kann, erwiesen oder einleuchtend gemacht werden.“
Dennoch spricht Bultmann von Auferstehung und Begegnung mit Christus: „Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene, begegnet uns im Worte der Verkündigung, nirgends anders. Eben der Glaube an dieses Wort ist in Wahrheit der Osterglaube.“ Wenn der Hörer dieses Wort als das zu ihm gesprochene hört, „so glaubt er an den Auferstandenen.“ In diesem Zusammenhang spricht Bultmann, fast pietistisch, von Entscheidung; nämlich, ob der Mensch unter dem Wort bereit ist, das Kreuz zu übernehmen. Die Verkündigung gewinnt so einen hohen Stellenwert, ja in ihr setzt sich das Heilsgeschehen fort! Bultmann entwickelte seine Theologie durchaus mit einem seelsorgerlichen Interesse am modernen Menschen. Das Wort sollte vor dem neuzeitlichen Denken in Schutz genommen werden; diesmal jedoch eingespannt in den Rahmen der Existenzphilosophie und unter radikaler Durchführung aller kritischen Methoden. Bultmann war in seiner Weise „fromm“, aber er gab einen Weg frei, den später Herbert BRAUN (und mit ihm weite Teile der Kirche!) beschritten: Theologie ist nichts anderes als Anthropologie! Wenn schon alles entmythologisiert wird, – warum nicht auch noch Gott selbst?
5. WILLI MARXEN: „DIE SACHE JESU GEHT WEITER“
Als Theologe der Gegenwart soll zuletzt Willi MARXEN vorgestellt werden anhand seiner Aufsatz-Sammlung „Die Sache Jesu geht weiter“ (1975). Marxen ist zweifellos an den Theologischen Fakultäten ein Außenseiter, aber er spricht aus, was heute unausgesprochen die theologische Basis in vielen evangelischen Gemeinden ist und als Mainstream die evangelischen Kirchentage beherrscht. Auf der Linie Bultmanns finden wir ihn, wenn er formuliert: „Es scheint mir sinnlos, isoliert einen Heiland
anzubieten, ohne zugleich etwas von seinem Heil zu sagen. Keineswegs sinnlos dagegen scheint es mir zu sein, Heil anzubieten, ohne den Heiland ausdrücklich zu nennen.“ Denn Jesus hat „in der Vergangen-heit durch seine Verkündigung eine Sache lediglich einmal in Gang gesetzt.“ „Auf ihn kommt es dann nicht mehr an, sondern nur auf seine Sache. Er selbst könnte bestenfalls als Beispiel dafür verstanden werden, wie diese Sache gelebt wird; aber eine Christologie wäre unnötiger Ballast.“ Jesus als Person tritt völlig zurück hinter der Sache, die er brachte, sodass sein „gesamtes Wirken als Ausdruck seiner Sache“ angesehen werden kann. Sie geht weiter, und in diesem Sinne lässt sich sagen: Jesus kommt auch heute.
Wie Bultmann lehrt auch Marxen, dass der Titel „Menschensohn“ nach Ostern auf Jesus übertragen wurde. Allerdings „nicht durch eine ‚Ostererfahrung‘ veranlasst, sondern durch die Erfahrung der Sache Jesu“ (Marxen spricht in diesem Zusammenhang von „Einbruch der Gottesherrschaft“). „Wir sind heute nicht mehr in der Lage, so unmittelbar von der Auferstehung Jesu als von einem Ereignis zu reden, sondern wir müssen einfach sagen: Es handelt sich um ein Interpretament, dessen sich diejenigen bedient haben, die ihr Widerfahrnis (damals!) reflektierten. Wenn man heute also (historisch!) die Frage stellt: Ist Jesus auferstanden?, dann können wir nur antworten: Das lässt sich nicht feststellen. Historisch lässt sich nur feststellen (das aber ist sicher!), dass Menschen nach dem Tode Jesu ein ihnen geschehenes Widerfahrnis behaupteten, das sie als Sehen Jesu bezeichnen – und die Reflexion dieses Widerfahrnisses führte diese Leute zur Interpretation: Jesus ist auferweckt worden.“ „Das Bekenntnis zur Auferstehung Jesu bedeutete jedenfalls die Überwindung des Anstoßes, den sein Geschick hervorrief … Trotz seines Todes kommt Er auch noch heute.“
Von einer Heilsbedeutung des Todes Jesu kann hier keine Rede sein, denn „nie und nimmer hat er Leiden und Tod gewollt.“ Ist die „Auferstehung“, bzw. nach Marxen jene undefinierbare Vision auch keine neue „heilsgeschichtliche Stufe“, so drückt das Bekenntnis zum Auferstandenen doch aus, „dass der irdische Jesus in unbegrenzter Souveränität die Hoheit der Gottesherrschaft lebte.“ Ganz im Sinne der liberalen Theologie formuliert Marxen: „Darum kann es nicht darauf ankommen, an Jesus zu glauben; vielmehr gilt es, wie Jesus zu glauben. Er hat das Evangelium gebracht; sein Inhalt ist es erst später geworden.“ Von daher lässt sich sogar sagen: „Jesus war der erste Christ“!
Vortrag an der „Schule für Evangelisation“ Altensteig 1981 (2004 aktualisiert)

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