Aufbruch ist möglich!
Gute Aussichten für die Evangelische Kirche in Deutschland von Swen Schönheit
Es war im Mai 2017, am Tag der Eröffnung des Ev. Kirchentags in Berlin. Ich saß am Fernseher und sah zufällig bei Phoenix ein Interview mit dem Ratsvorsitzenden der EKD Heinrich Bedford-Strohm. Darin äußerte er die Hoffnung, „dass der Schlüssel zur Zukunft der Kirche in so etwas wie einer geistlichen Erneuerung liegt.“ Wie viel Zukunft hat die Evangelische Kirche in Deutschland? Ist „so etwas“ wie ein geistlicher Aufbruch in Sicht?
Die Zeichen der Zeit deuten zunächst auf eine zunehmende Erosion im System Volkskirche: Pfarrstellen können nicht mehr flächendeckend besetzt werden, es fehlt am Nachwuchs für kirchliche Mitarbeiter, Gebäude müssen aufgegeben und Gemeinden zusammengelegt werden. Am gravierendsten aber ist der schleichende Relevanzverlust, den die Kirchen in unserer Gesellschaft erleben. Die Kirche als religiöser Dienstleister ist wohl noch gefragt, aber ihr „Markenkern“ wirkt unklar und unattraktiv. Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck formulierte auf einem „Zukunftskongress“ der EKD im Jahr 2014: „Wir spüren vielleicht noch mehr als wir wissen, dass sich große Veränderungen vollziehen – und dass wir an diesen Veränderungen mitarbeiten müssen, wenn wir nicht nur blinde Passagiere auf einem fremdgesteuerten Schiff sein wollen.“ Wohin steuert das EKD-Schiff? Ist der Kurs nach dem 500. Geburtstag der Reformation klarer geworden?
Im selben Jahr 2014 stellte die – bisher letzte – „Erhebung über Kirchenmitgliedschaft“ fest, dass die EKD „vor einem massiven Problem in der Überzeugungsarbeit Jugendlicher und junger Erwachsener“ steht: Sie verliert immer mehr junge Mitglieder. Der natürliche Nachwuchs durch Familientradition wird zum Auslaufmodell! Im Nachwort kommentiert Thies Gundlach, Vizepräsidenten des Kirchenamtes der EKD: „Die evangelische Kirche nimmt seit Beginn der Kirchenmitgliedschaftsuntersu-chungen 1972 ihre kontinuierliche Schwächung wahr, ohne dass eine der bekannten geistlichen Richtungen des Glaubens ein ‚Rezept‘ gegen den Mitglieder- und Bedeutungsverlust gefunden hat, falls es überhaupt eines gibt. … Ein Wachsen gegen den Trend der Demographie, der Säkularisierung und der Deinstitutionalisierung dürfte ein kraftvolles geistliches Geschehen zur Voraussetzung haben …“ Das klingt irgendwie resignativ … Oder ist es Ausdruck einer Sehnsucht nach einem geistlichen Aufbruch in unserer Kirche?
„Werde wach und stärke das Übrige, das im Begriff steht zu sterben …“ (Offb 3,2).
Ich bin überzeugt, dass in unserem evangelischen Erbe soviel geistliches Potenzial steckt, dass Erneuerung unserer Kirche nur in dem Maß möglich ist, wie sie ihre eigenen Wurzeln ernst nimmt. Sofern man die „Kirche der Reformation“ nicht auf Martin Luther reduziert, lassen sich durch die Jahrhunderte vielfältige Segenslinien verfolgen, an die wir heute anknüpfen sollten. Aufbruch bedeutet sicherlich keine Restauration, bloße Rückbesinnung oder das Beschwören „besserer Zeiten“. Aber für die Kirche gilt wie für das Gottesvolk im Alten Bund: Gott steht zu seiner Verheißung und seinem Segen. Und er kann aus der alten Wurzel jederzeit wieder neues und frisches Leben sprießen lassen (vgl. Jes 37,31). Insofern gilt auch unter veränderten gesellschaftlichen Herausforderungen für die Zukunft unserer Kirche: Wir müssen zurückkehren zum Wesentlichen, dem „einen, das not ist“ (Lk 10,42). Im Zentrum der Kirche steht Jesus Christus (Mt 16,16-18). Und wenn wir in Seinem Namen die einfachen Dinge entschlossen tun, wird der Segen nicht ausbleiben. „Frischer Wind in alten Kirchen“ (Willem van Dam 1985) ist möglich! Dazu fünf Schneisen: Gute Aussichten und Aufbruch im Kleinen gibt es überall …
1. wo Kirche das Evangelium wieder zu ihrem „Schatz“ macht
2. wo sich Christen im Gottesdienst und „in den Häusern“ treffen
Kirchengemeinden müssen begreifen, dass sie nicht nur Veranstalter sind, sondern berufen sind Menschen in die Nachfolge Christi zu rufen. Dazu dient die Verkündigung im Gottesdienst, Begegnungen anlässlich von Amtshandlungen, überschaubare Gruppen und Glaubenskurse. Wo der bloße Gottesdienst ergänzt wird durch Kleingruppen „in den Häusern“ (Apg 2,42.46), wird Glaube persönlich. Sonntag und Alltag fallen nicht mehr auseinander. Aus dem bloßen „Besuch“ von Veranstaltungen wird Beteiligung der Einzelnen. Gemeinde gewinnt als „Christusleib“ Gestalt, entwickelt sich organisch und wird nicht länger nur organisiert. Denn „das Leben Jesu Christi ist auf dieser Erde noch nicht zu Ende gebracht. Christus lebt es weiter in dem Leben seiner Nachfolger,“ schrieb Dietrich Bonhoeffer 1937 in seinem Buch „Nachfolge“.
3. wo die Volkskirche bereit ist auch von „den anderen“ zu lernen
Obwohl unsere Kirche sich so weltoffen gibt und gerne zu gesellschaftlichen Fragen Stellung nimmt, leben die Gemeinden vor Ort häufig in einem verengten Milieu. Was „die anderen“ machen, Freikirchen, Gemeinschaften oder Kommunitäten, wird je nach theologischer Geschmacksrichtung ignoriert, kritisiert, oder auch freudig begrüßt. Dabei gibt es seit Jahren eine massive Abwanderung vor allem von jungen Leuten in freikirchliche Gemeindeprojekte. Dies gilt vor allem für die Großstädte. Hinzu kommen die zahlreichen Gemeinden mit Migrationshintergrund. Aufbruch geschieht auch dort, wo wir bereit sind demütig voneinander zu lernen. Die Dynamik junger Leute mit ihren neuen Ausdrucksformen des Glaubens und der „Altbestand“ kirchlicher Tradition könnten sich durchaus ergänzen. Vorausgesetzt, man verteidigt nicht nur das Gewohnte und fragt gemeinsam „zuerst nach dem Reich Gottes“ (Mt 6,33).
4. wo Kirche dem Zeitgeist etwas „Geistgewirktes“ entgegenstellt
Zahlreiche Gemeinden, ja ganze Landeskirchen sind inzwischen zerrissen durch Auseinandersetzungen in ethischen Fragen. Nun lässt sich Kirche nicht einfach „dicht machen“ gegenüber gesellschaftlichen Trends und sie muss konkret Stellung beziehen. Allerdings wirkt es tragisch, dass die evangelische Kirche sich seit Jahrzehnten immer mehr dem Zeitgeist anpasst, damit aber keineswegs neue Zielgruppen gewinnt. „Hängt die Zukunft der Kirche daran, dass sie ihre Kompetenz in genuin religiösen Fragen stärker sichtbar macht?“, fragt Thies Gundlach im Nachwort zur letzten Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Ja, natürlich! Der Glaube an den gekreuzigten und auferstandenen Jesus ist und bleibt das Attraktivste, was Kirche jemals zu bieten hat. Dabei ist Glaube nie abstrakt. Er wird immer dazu führen, dass Christen die „Werke Gottes“ tun (vgl. Joh 14,12). Oder wie Johann Hinrich Wichern 1848 auf dem ersten deutschen Kirchentag in Wittenberg formulierte: „Die Liebe gehört mir wie der Glaube.“
5. wo das Bedürfnis nach „Spiritualität“ zu geistlicher Vollmacht wird
Die Sehnsucht nach geistlicher Erfahrung ist allenthalben im Raum der evangelischen Kirche spürbar. Nach einer jahrzehntelangen Vorherrschaft rationalistisch geprägter Theologie sind viele Gemeindeglieder „spirituell ausgehungert“. Entscheidend wird nur sein, dass geistliche Angebote zur persönlichen Erfahrung des Heiligen Geistes führen. Er allein vermittelt die Liebe des Vaters und Gewissheit des Glaubens (vgl. Röm 5,5; 8,9.16). Dabei geht es nicht nur um die Erfüllung religiöser Bedürfnisse: Gottes Geist befähigt zum Christus-Zeugnis und bevollmächtigt zum Dienst! Deshalb wird das Gebet der Alten Kirche auch in unseren Gemeinden nicht folgenlos bleiben: „Komm, Heiliger Geist, erfüll die Herzen deiner Gläubigen und entzünde in ihnen das Feuer deiner göttlichen Liebe!“ (Evangelisches Gesangbuch, Nr. 156). Mit diesem fünf Schneisen soll aufgezeigt werden, wie Aufbruch möglich ist. Gemeinden müssen sich verabschieden von einer Art „Gemischtwaren-Laden“, wo alles und jedes möglich ist. Gemeinden brauchen eine geistliche Mitte. Die Zeit ist weit fortgeschritten, und wer die Zeichen der Zeit erkannt hat, wird sich auf das Wesentliche fokussieren, wird tun, was Kirche unverwechselbar macht. In all dem geht es um die Erwartung, dass Gott inmitten unserer begrenzten Möglichkeiten das Unmögliche tun kann: „Nicht durch Macht und nicht durch Kraft, sondern durch meinen Geist! spricht der Herr“ (Sach 4,6). Oder um es mit Theodor Herzl zu sagen: „Wenn ihr wollt, ist es kein Traum!“
Bibelverse nach: Schlachter-Bibel (2000)
Dieser Artikel erschien zuerst in: Geistesgegenwärtig März 2019
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