E-Mail von Jesus

Umkehr muss in der Gemeinde beginnen!

von Swen Schönheit

„Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ So beschreibt der Evangelist Markus den Kern der Botschaft Jesu (Mk 1,15). Eine Generation später scheiden sich in Athen die Geister der Gelehrten an den Worten des Paulus: „Gott, der über die Zeiten der Unwissenheit hinweggesehen hat, lässt jetzt den Menschen verkünden, dass überall alle umkehren sollen“ (Apg 17,30). Und im letzten Buch der Bibel bekommen die Gemeinden Post von Jesus: „An den Engel der Gemeinde in Ephesus schreibe …“ (Offb 2,1). E-Mail von Jesus – „Engels-Post“!

In seinen „Sendschreiben“ fordert der Auferstandene immerhin vier von sieben Gemeinden im damaligen Kleinasien auf, sie sollten „umkehren“ (Offb 2-3)! Durch Martin Luther und ältere Bibelübersetzungen sind wir mit dem Ruf „tut Buße“ vertraut. Heute klingt dies eher nach „Bußgeld“, „Strafzettel“, lässt an „abbüßen“ denken – also keine attraktive Aussicht! Im Neuen Testament meint das griechische Wort metanoia jedoch ein „Umdenken“, eine Neuausrichtung unserer Gesinnung, einen grundlegenden Kurswechsel – eigentlich eine tolle Chance! Und genau dies schreibt Jesus seiner Gemeinde ins Stammbuch, damals wie heute. Doch wie kann eine Gemeinde „umkehren“? Woraus ergibt sich die Notwendigkeit? Und ist es nicht viel eher die „Welt“, die sich bekehren müsste? Woher diese Besorgnis beim Herrn seiner Gemeinde?

Gemeinde als System verstehen

Gemeinden sind komplexe Gebilde. In manchen Aspekten gleichen sie Organisationen, in anderer Hinsicht sind sie wie große Familien. „Mit dem Haupt im Himmel und beiden Beinen auf der Erde“ haben sie nicht nur spirituelle, sondern ebenso soziologische und psychologische Dimensionen. Um Gemeinden besser erfassen zu können, kann uns systemisches Denken weiterhelfen.

Ein System ist mehr als die Summe seiner Bestandteile. Unser Gehirn ist mehr als die Summe seiner Zellen. Ein Wald umfasst mehr als seinen Boden, Bäume und Tiere. Eine Stadt ist größer als die Summe ihrer Gebäude, Einwohner usw. In einem System stehen alle Teile miteinander in einer Wechselwirkung und sind durch zahlreiche Muster ineinander verwoben. In jedem System laufen Prozesse ab, die man verstehen muss, um es beeinflussen zu können. Seit den 1940er Jahren findet systemisches Denken zunehmend Anerkennung als interdisziplinäre Wissenschaft. Vor allem in Bereichen wie Ökologie und Soziologie, Psychologie und Therapie haben sich dadurch neue Sichtweisen entwickelt. Der Blick ist ganzheitlicher geworden.

Zunächst müssen wir einfache Systeme – nach dem Prinzip von „Ursache und Wirkung“ – von komplexen Systemen unterscheiden. Ein einfaches, mechanisches System (z.B. eine Heizungsanlage) funktioniert berechenbar, lässt sich von außen steuern und gezielt reparieren. Anders verhält es sich bei lebendigen, komplexen Systemen. Dazu zählen unser Nervensystem, Ökosysteme, die Entwicklung einer Stadt oder die Geschichte einer Familie. Jede Gruppe und somit auch jede Gemeinde hat ihre eigene, nicht vorhersagbare Dynamik, was oft zu großen Überraschungen führt. Solche lebendigen, komplexen Systeme entwickeln sich organisch, weniger organisiert, und reproduzieren sich selbst. Sie steuern sich quasi aus sich selbst heraus und verfügen normalerweise über ein erstaunliches Potenzial an Selbstheilungskräften. Sie können aber auch „erkranken“, sich abkapseln und schadhaft werden.

Aus unserer deutschen Geschichte wissen wir, dass destruktive Systeme bis zu ihrem Untergang enorm viel Schaden anrichten können. Das „Tausendjährige Reich“ (1933-1945) riss in seinem Größenwahn Millionen Menschen mit in den Tod. Die DDR kollabierte kurz nach ihrem 40. Geburtstag (1949-1989). In beiden Fällen erwiesen sich politische Systeme als nicht mehr reformierbar und resistent gegen jeden Versuch der Veränderung. Innerhalb dieser Art von politischem System gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man passt sich an uns stabilisiert das System, oder man bricht mit ihm und riskiert sein Leben. 500 Jahre nach dem Thesenanschlag von Wittenberg denken wir an den mutigen Mönch Martin Luther, der mit dem damaligen System der Papstkirche brach. Auf die Frage, wo sich Kirchen heute zum dysfunktionalen System entwickeln, wird in diesem Artikel nicht näher eingegangen. Wir wollen auf der Ebene der einzelnen Gemeinden vor Ort bleiben.

Gemeinde vor dem Angesicht des Auferstandenen

Gibt es auch im Neuen Testament so etwas wie einen systemischen Blick auf Gemeinden? Und wenn ja: Lässt sich eine „Gemeinde als System“ verändern?

Über die sieben Sendschreiben in der Offenbarung des Johannes ist viel diskutiert und auch spekuliert worden. Wenn man sie rein historisch liest, haben sie uns heute nicht mehr viel zu sagen. Wenn sie jedoch prototypisch die damaligen Gemeinden ansprechen, werden bestimmte Muster sichtbar, die in verschiedenen Generationen und Konfessionen immer wieder anzutreffen sind. Auffallend an den E-Mails Jesus ist jedenfalls folgendes:

  • Alle Gemeinden werden über ihren Wohnort definiert, nicht über Gründerpersönlichkeiten, den leitenden Hirten (Pfarrer, Pastor, Prediger) oder – wie in späteren Jahrhunderten – nach ihrer Konfession bezeichnet.1
  • Alle Gemeinden stehen in einem mehrfachen Konflikt: Manche sind unter Druck geraten durch Verfolgung und Feindseligkeit ihrer Umgebung, andere sind gefährdet durch falsche Lehre und Fehlentwicklungen im Innern der Gemeinde.
  • Im Wesentlichen werden von Jesus folgende Problembereiche angesprochen: Verlust der ursprünglichen Liebe (Offb 2,4); Absterben des geistlichen Lebens (3,2); Festhalten an Irrlehren (2,14-15.24); Tolerierung von „Unzucht“ (2,20); Gleichgültigkeit, Beliebigkeit, Selbsttäuschung (3,15-18).
  • „Ich weiß, wo du wohnst; es ist dort, wo der Thron des Satans steht“ (Offb 2,13). Wie gut, dass Jesus die Stadt genauso gut durchschaut wie die Kirche! Er kennt die Kräfte, die eine Gemeinde beeinflussen, bedrängen oder manipulieren möchten. Dennoch spricht er in seinen Briefen kein Bedauern aus, sondern einen Herzenswunsch: die Gemeinden sollen „überwinden“ (dies gilt allen)!
  • Eigentümlich ist die Adresse der Sendschreiben: Sie alle richten sich „an den Engel der Gemeinde in …“. Doch wer sind diese Engel (Boten)? Himmlische Wesen? Doch warum sollten diese zur Umkehr gerufen werden? Oder irdische Gemeindeleiter? Diese werden jedoch sonst nirgendwo im Neuen Testament als „Engel“ bezeichnet? Wer ist hier angesprochen bei diesem Kommunikationsgeschehen zwischen Himmel und Erde?

Umkehr beim Einzelnen und im System

Im Rahmen von systemischem Denken fällt es nicht schwer, mit korporativen Persönlichkeiten zu rechnen (Korporationen wie Zünfte oder Gilden sind die Vorläufer moderner Organisationen). Wir sprechen heute von „dem Land Brandenburg“, „der Deutschen Bahn“ oder „der National-Elf“. Von Nationen und Städten („Metropolen“, also Städte als Mütter) sagt man, dass sie einen bestimmten „Geist“ haben. In der Therapie beschäftigt man sich längst mit „Familien-Systemen“, nicht nur dem Verhalten des Einzelnen. Schließlich entwickeln manche Führungspersönlichkeiten um sich herum ein eigenes „System“ (von Macht und Einfluss). Korporatives Denken ist uns heutigen Individualisten abhandengekommen, doch für biblisches Denken ist es typisch!2 Kurz gesagt: Es scheint so etwas wie eine „Corporate Personality“ zu geben, die mehr ist als die Summe der Einzelnen und die auch Generationen überdauern kann.3 Und die scheint Jesus direkt anzusprechen. Damit ist der Einzelne durchaus nicht seiner Verantwortung enthoben! Doch die Umkehr muss weitergehen als der Sinneswandel einzelner Gemeindeglieder – das gesamte „Betriebssystem“ der Gemeinde braucht eine Erneuerung!

Mir scheint es eine typische „Gemeindekrankheit“ zu sein, dass man den Abstand zu sich selbst verliert. Gemeinde kann sich sehr leicht zu einer „geschlossenen Gesellschaft“ entwickeln. Man spricht dieselbe Sprache, kennt den internen Code, bestätigt einander … und verliert das Gefühl für „Außenstehende“! Ein Stück weit ist solche Betriebsblindheit normal, doch gefährlich wird sie, wenn Selbstzufriedenheit um sich greift und der Wille zur Veränderung verloren geht. Analog zur Familie können sich auch Gemeinden zu dysfunktionalen, destruktiven Systeme entwickeln. Sie sind dann nicht mehr – wie alle gesunden Systeme der Schöpfung – kreativ, lernfähig, fruchtbar, sondern genügen sich selbst und richten sich letztlich selbst zugrunde. Um nicht missverstanden zu werden: Systeme sind nie vom Himmel gefallen – sie konnten sich nur entwickeln durch den Einfluss von Schlüsselpersonen und Grundentscheidungen in der Vergangenheit.

Destruktive Gemeinde-Systeme

In manchen Gemeinden oder Werken kommen Machtmenschen empor, die alles im Griff haben wollen und versteckt oder direkt Kontrolle ausüben. Andere Gemeinden entwickeln ein elitäres Bewusstsein und fühlen sich aufgrund ihres Erfolgs, ihrer „Besonderheit“ und ihrer Anziehungskraft anderen überlegen. Dazu passt in manchen Gruppen ein überhöhtes Verständnis von „geistlicher Leiterschaft“, was meistens zu zentralistischen Leitungsstrukturen und ungesunden Abhängigkeiten führt. Regelrecht tragisch wird es, wenn Menschen entsprechend ihrer „Loyalität“ eingruppiert oder aussortiert werden – nach dem Motto „wer nicht für uns ist …“ Wieder andere Gemeinden kranken an Parteibildung, Konflikten zwischen den Verantwortlichen, manchmal auch Zerwürfnissen sogar über Generationen hinweg. Hinlänglich bekannt ist die gesetzliche Haltung mancher Gemeinden, durch deren rigide Moralvorstellungen Menschen entmündigt oder ausgegrenzt wurden. Subtiler zu durchschauen ist die Leistungsorientierung, von der manche Gemeinde geprägt sind: Menschen werden daran gemessen, wie stark sie sich „in die Gemeinde einbringen“. Tun gilt hier mehr als Sein. Aktivismus steht höher im Kurs als Charakter.

Gemeinden können sich ebenso ungesund entwickeln durch falsch verstandene Liberalität wie durch ungesunde Kontrolle. Es scheint mir jedoch ein typisch destruktives Muster zu geben, das der Teufel gerne in gut laufende und geistlich klar ausgerichtete Gemeinden einschleusen möchte: Manipulation und Dominanz. Diese sind gefährliche Kopien der Leitung durch den Heiligen Geist – und häufig erst spät zu durchschauen! Manipulative und dominante Systeme sind Machtsysteme und werden – in Kirche und Gesellschaft – jedenfalls Dauer immer irritierte und missbrauchte Menschen zurückzulassen.

Umkehr muss vor Ort beginnen

Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, ins große Seufzen über Gemeinde einzustimmen. Jesus hat jede Menge Hoffnung – sonst würde er seine Gemeinden nicht direkt anschreiben! Doch der Weg zur Heilung liegt in einer ehrlichen Diagnose! „Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt“, ruft der Herr seinen Gemeinden zu. Und zugleich warnt er eine von ihnen: „Wenn du nicht umkehrst, werde ich kommen und deiner Leuchter von seiner Stelle wegrücken“ (Offb 2,5-7). Gemeinde Jesu kann ihre Hörfähigkeit auch verlieren, sich als beratungsresistent und nicht mehr reformierbar erweisen. Darum bedarf sie, darum bedürfen wir zuerst der Umkehr! „Denn jetzt ist die Zeit, in der das Gericht beim Haus Gottes beginnt“, mahnte Petrus schon im ersten Jahrhundert (1 Pt 4,17). Wenn diese Sicht der Dinge damals galt, wie steht es dann heute um unsere Gemeinden?

Gemeindeentwicklung ist immer ein Zusammenspiel von Gott und Mensch: begründet in den großen Möglichkeiten Gottes – begrenzt durch unsere Unzulänglichkeiten. Die Bibel zeigt uns durch das Lebensbild des Petrus in eindrücklicher Weise Gottes Entschlossenheit, mit uns und durch uns Gemeinde zu bauen (Mt 16,18). Gott vertraut uns – zugleich geht er durch diese Kooperation manches Risiko ein. Petrus musste „umkehren“, bevor Jesus ihn als verantwortlichen Leiter seiner Gemeinde einsetzen konnte (Lk 22,32). Sein „alter Mensch“ – geprägt von Ehrgeiz, Übereifer, Selbstüberschätzung – musste sterben, damit Gottes Geist durch ihn ungehindert wirken konnte.

Von welchen falschen Haltungen und Gewohnheiten müssen wir „umkehren“? Wo steht bei uns der alte Mensch dem Geist Gottes im Weg? Oder gibt es in unseren Gemeinden Altlasten der Vergangenheit, die einen Aufbruch nach vorne behindern? Wo muss „Boden bereinigt“ werden, damit Neues sich gesund entfalten kann (vgl. Hos 10,12)? Was sollten wir – persönlich oder als Gemeindeleitung – bekennen und bewusst unters Kreuz bringen?

Gemeinde mit Leuchtkraft werden!

Der auferstandene Christus steht inmitten seiner Gemeinde, umgeben von „sieben goldenen Leuchtern“. In der Bildersprache der Offenbarung stehen „Sterne“ (Engel) und „Leuchter“ (Gemeinden) offenbar für die Leuchtkraft, die Ausstrahlung der Gemeinde Jesu an ihrem Ort (Offb 1,12-13.20). Vordergründig hat so manche Gemeinde Anziehungskraft – vielleicht aufgrund ihrer begabten Mitarbeiter, ihrer attraktiven Programme, ihrer „coolen Location“. Doch Jesus sieht tiefer: Er weiß, wo die Lichtquelle liegt. Er, „das Licht der Welt“ will uns zum „Licht“ machen, das „in der Welt leuchtet“ (Joh 8,12; Mt 5,14-16; Phil 2,15). Umkehr einer Gemeinde kann deshalb nur bedeuten, dass wir zurückkehren zur eigentlichen Kraftquelle, dass wir neu Anschluss gewinnen an Ihn selbst, falsche Göttern entmachten und Jesus uneingeschränkt Herr sein lassen. Sein großer Herzenswunsch für Gemeinden damals wie heute heißt, sie sollen „überwinden“. Das bedeutet: verkehrte Haltungen ablegen, Kompromisse durchschauen, saubermachen im eigenen Haus, eben Umkehr in den eigenen Reihen. Ein solcher Prozess lohnt sich, denn Gemeinde Jesu steht unter der großartigen Verheißung ihres Herrn: „… und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen“ (Mt 16,18). Es ist dieser Weg der Umkehr, durch den Gemeinde lebendig wird, durch den Kirche Zukunft gewinnt!

„Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben. …

So soll euer Licht vor den Menschen leuchten …“ (Mt 5,15)

Anmerkungen

  1. vgl. zur Gemeinde in der Stadt: 1 Kor 1,2.12; 1 Thes 1,1; Jer 29,7
  2. Korporatives Denken finden wir hinter zahlreichen Aussagen des Alten und Neuen Testaments: Adam wird bei Paulus als Archetyp des sündigen Menschen dem Gegenbild von Jesus Christus gegenübergestellt: „Durch einen einzigen Menschen … gelangte der Tod zu allen Menschen“ (Röm 5,12-19). Der Abraham zugesagte Segen erreicht Generationen und Nationen (Gal 3,8-9: „in dir …“; Röm 4,16: „… der unser aller Vater ist.“). Auf David und seinem „Haus“ lag eine Verheißung, die über Generationen Geschichte prägte (1 Kön 11,34.38; 2 Kön 8,19; 19,34; Amos 9,11; Ps 89,36-37)
  3. Vgl. dazu: Manfred Schmidt (Hg. Lorenz Reithmeier), Religiöser Missbrauch (2006), S. 71-73

Bibelzitate nach: Einheitsübersetzung (1980)

Dieser Artikel erschien zuerst in: Geistesgegenwärtig 4/2016

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