Die Berliner Erklärung 1909 und die geistlichen Folgen für unser Land
Vortrag zum Gebetstag: „Komm Heiliger Geist!“, 15.09.2009 in Berlin
von Swen Schönheit
- Das geistliche Klima zu Beginn des 20. Jahrhunderts
- Der Aufbruch der Pfingstbewegung in Deutschland
- Die Versammlungen in Kassel (Sommer 1907)
- Ein Riss geht durchs Land …
- Die Berliner Erklärung und ihre Wirkung
- Geistliche Konsequenzen – der Versuch einer Deutung
Einleitende Bemerkungen
Die „neun“ hat es irgendwie in sich im Blick auf deutsche Geschichtsdaten: In diesem Herbst vor 20 Jahren fiel in Berlin die Mauer (1989). Vor 60 Jahren wurden die Bundesrepublik und die DDR gegründet (1949). Und vor 70 Jahren brach der Zweite Weltkrieg aus (1939). Und nun dieses Thema, das uns heute zusammenführt: Am heutigen Tag vor 100 Jahren unterzeichneten fast 60 Vertreter aus Gemeinschaftsbewegung und Freikirchen die „Berliner Erklärung“. Ein weiteres Gedenken in geistlicher Hinsicht. Ist dies überhaupt nötig? Und ist es möglich, nach einem Jahrhundert noch Spätfolgen im Gebet anzugehen?
Wie nachhaltig Formulierungen der Berliner Erklärung (im Folgenden „B.E.“) auf Boden des deutschen Pietismus nachwirkten, wurde mir Anfang der 1980er Jahre bewusst, als ich mein Theologiestudium beendete. Für meine Examensarbeit über den „Aufbruch der Pfingstbewegung in Deutschland“ wählte ich bewusst einen Professor, der nicht gerade als Freund der Pfingstler bekannt war. Zur selben Zeit lud Volkhardt Spitzer nach Berlin ins Olympiastadion ein unter dem Motto: „Jesus Christus – Hoffnung der 80er Jahre“. Die Reaktionen auf die Großveranstaltung zu Pfingsten 1981 fiel im pietistischen Lager geradezu allergisch bis panisch aus: Hier seien falsche Prophetien im Spiel, der Geist von unten sei am Werk, ja es drohe antichristliche Verführung. Einige von Euch waren sicherlich damals dabei …
Wie sehr die B.E. 1909 den Heiligen Geist betrübt hat, sollten wir ihn selbst fragen. Nachweisbar ist jedenfalls, dass Gaben des Heiligen Geistes über Generationen in Misskredit gerieten, Anhänger der Pfingstbewegung als irregeleitet und geistlich infiziert abgestempelt wurden und der ganze dritte Glaubensartikel zum Stiefkind deutscher Pietisten wurde. Mit jeder neuen Bewegung des Heiligen Geistes – der charismatischen Bewegung der 1960er und 1970er Jahre, der „dritten Welle“ der 1980er und der „Toronto-Bewegung“ der 1990er Jahre – kamen dieselben Ängste hoch und kursierten zum Teil dieselben Textbausteine, wenn auch mit abnehmender Wirkung. Ist jetzt das Ende in Sicht?
Nun muss jede Erklärung zunächst aus ihrer Zeit heraus verstanden werden. Insofern betrachten wir uns zuerst …
1. Das geistliche Klima zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Als die Pfingstbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts auftrat, waren ihr bereits Jahrzehnte zuvor regionale Erweckungen vorausgegangen. Das 19. Jahrhundert steht für geistliche Aufbrüche in unserem Land, die bis heute typische Prägungen einzelner Landstriche hinterlassen haben. Der deutsche Pietismus bekam nach der inneren Auseinandersetzungen mit Aufklärung und Bibelkritik neuen Aufschwung. Neue Gemeinschaften und Vereine entstanden (der erste deutsche CVJM, das Johanneum, Chrischona usw.). 1888 wurde auf einer Konferenz in Gnadau (bei Magdeburg) die deutsche Gemeinschaftsbewegung gegründet. Man spricht vom Neupietismus, der zur Jahrhundertwende seine Blütezeit erreicht. Hin und her im Deutschen Reich sind die Gläubigen von einer großen Sehnsucht nach der Fülle des Geistes und seinen Gaben erfüllt. Das Thema „Heiligung“ steht überall ganz oben auf der Tagesordnung.
In einem Gedicht aus dem Jahr 1901 klingt dies so: „Taufe mich mit Deiner Taufe! Ziehe mich, damit ich laufe! … Gib den Geist, der mich erneu’re, dass ich wahre Pfingsten fei’re!“1
„Es fehlt uns die Salbung“, heißt es 1903. „Der Heilige Geist ist wohl in uns, aber wir sind nicht voll von Ihm. Es ist tiefe Ebbe; möchte es doch bald eine Flut werden!“2
1904 fragte man sich auf der Gnadauer Gemeinschaftskonferenz: „Wo sind denn die Erweckungen bei uns in Deutschland? Warum bleibt der Spätregen aus?“ „Wir sind eine vorpfingstliche Gemeinde“3
Passend zu dieser geistlichen Erwartungshaltung zeigte sich eine große Offenheit, von der Heiligungsbewegung in England zu profitieren. Bereits John Wesley (1703-1791) hatte die Erfahrung völliger Heiligung (entire sanctification) als „zweiten Segen“ verstanden. Erwartungsvoll blickte man nach Wales, wo eine Erweckung ganze Landstriche verändert hatte. Besonders Jugendliche erlebten in großer Zahl die „Feuertaufe“. Man traf sich in Gebetsversammlungen bis zum Morgengrauen. Man erlebte signifikante soziale Veränderungen. So sollen sich bis 1905 rund 100.000 Menschen in Wales bekehrt haben. Besucher reisten an, etwa Jakob Vetter, Gründer der Deutschen Zeltmission. „Was könnte den Geist Gottes hindern, von England zu uns über den Kanal zu kommen. Der Geist weht, wo er will“, schrieb die Zeitschrift „Licht und Leben“.4
1901 gehen intensive Aufrufe zum Gebet um Erweckung durch pietistische Kreise. „Es herrscht ein weit verbreitetes Gefühl, dass eine Neubelebung der Kirche nahe sei. Dieses Bedürfnis war niemals augenscheinlicher als jetzt.“ 1905 ruft man die Gläubigen für die Zeit von Himmelfahrt bis Pfingsten zum Gebet „um ein wahres Pfingsten“ auf.5
In Deutschland erlebt Mülheim an der Ruhr ab 1905 einen geistlichen Aufbruch, der in dieser Weise bisher einzigartig war. Der Ortspfarrer Ernst Modersohn (1870-1948) spielt hier eine tragende Rolle. Großen Einfluss hat als Gastsprecher Jonathan Paul (1853-1931) aus Berlin, der später in der B.E. namentlich verurteilt wird. Die Mülheimer Erweckung führt Gläubige unterschiedlichster Gruppen zusammen, zeichnet sich durch einen intensiven Geist des Gebets und große Bußbereitschaft aus. Lobgesang erfüllt die Züge, wenn die Gläubigen abends von den Versammlungen heimkehren. Nach sechs Wochen sind 3.000 Gläubige zu verzeichnen. 300 von ihnen konstituieren sich zur „Christlichen Gemeinschaft“, der Muttergemeinde des späteren Mülheimer Verbandes.6
Zeitgleich kommt es in vielen Teilen des Reiches zu geistlichen Aufbrüchen. Zur Konferenz in Blankenburg (Thüringen) – bis heute Zentrum der Evangelischen Allianz – lädt man 1905 als Hauptredner Reuben Archer Torrey (1856-1928) aus Chicago ein. Er lehrte: „Es ist eine Sache wiedergeboren zu sein durch den Heiligen Geist, es ist eine andere Sache, die noch hinzukommen muss, getauft zu sein mit dem Heiligen Geist.“7 Damit stand er mit Charles G. Finney in einer Linie, den die Erfahrung einer persönlichen „Geistestaufe“ geprägt hatte. Das Allianz-Blatt dankte anschließend für eine Erweckung, „wie sie geistesmächtiger und tiefgreifender wohl keiner der etwa 1400 Konferenzgäste erwartet hätte.“8
Obwohl es auch zu dieser Zeit schon warnende Stimmen gab, standen die führenden Männer des deutschen Pietismus unter der Erwartung, Gott würde Deutschland in ähnlicher Weise berühren wie die britischen Inseln. Die Zeitschrift „Licht und Leben“ berichtet 1905 von einem „Geistesregen“ in aller Welt: „Jetzt ist die Ernte reif. Gottes Stunde für eine große, weltweite Erweckung scheint geschlagen zu haben.“9 Auf diesen vorbereiteten Boden fiel die Pfingstbewegung, die ab 1906 Deutschland erreichte.
2. Der Aufbruch der Pfingstbewegung in Deutschland
Den Aufbruch der weltweiten Pfingstbewegung möchte ich in diesem Vortrag als bekannt voraussetzen. Als geistlicher Türöffner gilt das Erleben einiger Bibelschüler in Topeka (Kansas/USA), die anhand der Apostelgeschichte nach Beweisen für die Taufe im Heiligen Geist forschen sollten. Ihr Ergebnis war, „dass das Zungenreden der biblische Beweis für die Taufe des Heiligen Geistes sei.“10 Der Einsicht folgte sofort die Erfahrung: In einer Versammlung am Neujahrstag 1901 erleben 12 von ihnen eine „neue Geistesausgießung“ und die Austeilung der Sprachengabe. Obwohl es zur Jahrhundertwende in vielen Teilen der Welt gleichzeitig und unabhängig voneinander „pfingstliche“ Aufbrüche gibt, wird eine kleine Versammlung in Los Angeles (Kalifornien) gleichsam das Tor zur Welt (die „Apostolic Faith Mission“ in der legendären Azusa-Street).
Auf europäischem Boden wurde Oslo (damals Christiana) zum Ausgangspunkt einer raschen Ausbreitung über Skandinavien, England und die Schweiz. Den Weg nach Deutschland aber ebneten im Wesentlichen zwei Männer: Jonathan Paul und Emil Meyer, Leiter der Hamburger „Strandmission“. Paul reiste im Frühjahr 1907 nach Norwegen, um die Bewegung kennen zu lernen. „Ich fand in dieser ganzen Bewegung den Zug der Liebe zu Jesus und die Sehnsucht nach tieferer Erfüllung von ihm“, schreibt er rückblickend. Im April 1907 erfolgt ein Bericht auf der „Brieger Woche“, wo viele Anwesende den Wunsch äußern, „die Zungenbewegung“ möge sich als echt erweisen und den lange ersehnten „Durchbruch“ einleiten.11 Paul hatte bei den Versammlungen in Skandinavien „klares Evangelium“ vernommen, es waren dort „Kräfte und Mächte von oben vorhanden.“12
Allerdings gab es in der folgenden Aussprache bereits Sorgen vor einem Betrug durch falsche Geister, so aus dem Munde von Johannes Seitz (1839-1922), der Paul später leidenschaftlich bekämpfte. Hauptthema des Referats von Jonathan Paul in Brieg (Schlesien) war jedoch das „Ausziehen des alten Menschen“. Hierin bezeugte er eine persönliche Heiligungserfahrung, die in der B.E. zum Zankapfel werden sollte. Unter den Zuhörern befand sich damals in Brieg Heinrich Dallmeyer (1870-1925), der Verantwortliche für die späteren Versammlungen in Kassel. Er war ein strebsamer, ehrgeiziger Absolvent des Johanneums, seelisch wohl von einigen Selbstzweifeln geplagt. („Ein tiefes Sündenbewusstsein begleitete ihn stets, und es fiel ihm schwer, fröhlich an die Vergebung zu glauben.“13) 1904 erlebte er einen geistlichen Durchbruch, fand inneren Frieden und arbeitete ab 1906 als Evangelist. Allerdings bezeugte er zu dieser Zeit selbst, er hätte wohl weniger die Gabe der Leitung und wolle lieber andere Brüder unterstützen.
Im Sommer 1907 überschlagen sich die Ereignisse. Jonathan Paul und Emil Meyer besuchen Oslo und treffen im Haus des Methodistenpastors Thomas Ball Barratt zwei junge Frauen, die mit Sprachenrede und deren Auslegung begabt sind. Meyer lädt sie zu einer Evangelisationswoche nach Hamburg ein. Damit vollzieht sich der Brückenschlag der Pfingstbewegung nach Deutschland. Dallmeyer stößt hinzu, ist fasziniert von der Ausstrahlung der beiden Norwegerinnen und erlebt geistliche Erneuerung und die Heilung von einem Herzleiden. „Der Herr schenkte mir ein reines Herz“, bezeugt Dallmeyer anschließend. Ständig sucht er nun Gottes Nähe im Gebet und „zwei Tage später taufte mich der Herr mit Seinem Heiligen Geist.“14 Ende Juni fasst er den Plan, in Kassel Erweckungsversammlungen durchzuführen. Dazu bietet sich das Haus des Blauen Kreuzes an, das sein Bruder August leitete.
3. Die Versammlungen in Kassel (Sommer 1907)
Die Kasseler Versammlungen in der Schillerstraße 4 haben für Jahrzehnte das Bild der deutschen Pfingstbewegung geprägt, sie letztlich in Misskredit gebracht und die B.E. provoziert. Deshalb ist es angezeigt, die vier Wochen im Juli 1907 genauer unter die Lupe zu nehmen. Dallmeyer war, obwohl Meyer in Hamburg abriet, mit den beiden norwegischen „Zungenrednerinnen“ losgezogen. Die mitreisende Dolmetscherin erinnert sich rückblickend, dass sein Gemütszustand nicht gerade unausgeglichen gewesen sei.15
Vom Eröffnungsabend an (7. Juli 1907) ist der Saal mit erwartungsvollen Menschen gefüllt. Schwerpunkt ist die „innere Reinigung des Volkes Gottes“, einige beginnen Sünden zu bekennen, andere bitten einander um Vergebung. Die Norwegerinnen geben Botschaften durch Sprachenrede mit Auslegung, oftmals in Form von Schriftworten. Dallmeyers Aufruf zu Lebensübergabe und Erfüllung mit dem Heiligen Geist führt nun dazu, dass besondere Nachversammlungen angeboten werden. Der Geist selbst sollte in allem die Leitung behalten. Allerdings wirkte im Deutschland der Kaiserzeit folgende Szene befremdlich: An einem Abend sprang August Dallmeyer, der Gastgeber, „von seinen Knien auf, machte Luftsprünge, schlug dabei seine Arme weit zurück und schrie, so laut er konnte“ immer wieder „Halleluja“.16 Zugleich gab es offenbar eine überspannte Erwartung, jedenfalls hatte die Frau von August die Botschaft erhalten: „Im Blaukreuzhaus bleiben, bis Joel 3 erfüllt ist.“17
Dennoch: Otto Kaiser, späterer EC-Vorsitzender, wohnte den Versammlungen bis zum Ende bei und bezeugt über die Anfangszeit: „Noch nie hatte ich bis dahin einer Versammlung beigewohnt, in der solche ungeteilte Aufmerksamkeit und feierliche Stille herrschte.“18 Und Elias Schrenk (1831-1913), eine Autorität im Gnadauer Verband, besuchte Kassel für eine Woche und betete in den Versammlungen: „Wir danken Dir, Herr, dass Du wieder zurückgekehrt bist zu Deinem Tempel.“ „Die Bewegung ist von Gott“, lautete sein Urteil. „Seit 50 Jahren warte ich auf Geistesgaben und freue mich, dass der Herr in unserer Zeit antwortet.“19
Dennoch gab es hinter den Kulissen einen Knick: Während einer Nachversammlung in der Nacht zum 20. Juli bekam einer der Anwesenden prophetische Worte und geriet dabei offensichtlich in große innere Kämpfe. „Der Bruder fiel zu Boden, lag wie tot auf der Erde einen heftigen Schmerz in der Brust fühlend. Als die Versammlung nach Hause ging, bekam dieser Bruder Offenbarungen.“20 „Frag mich!“, so hieß es aus dem Mund eines gewissen Engelhard Achenbach. Dallmeyer notierte daraufhin über 30 Botschaften, allerdings unter der Auflage der Schweigepflicht. Dabei wurde er glatt getäuscht mit der Aussage: „Du hast die Gabe der Geisterunterscheidung.“ Diese nahm Dallmeyer dann auch in den Versammlungen für sich in Anspruch, doch genau hier lag sein Defizit.21 Achenbach wie Dallmeyer gerieten in „schwere Zweifel an der Göttlichkeit der gemachten Erfahrung.“22 Dallmeyer ging jedoch schweigend über die Ereignisse hinweg und ließ die Versammlungen weiterlaufen. Wenn in späteren Jahren im Hause Dallmeyers das Klavier durch eine „unsichtbare Hand“ gespielt wurde und beim Thema „Zaubereisünden“ im Evangelisationssaal das Licht ausging, muss man sich schon fragen, ob nicht seinerzeit finstere Mächte ein Anrecht bekommen hatten.23
Ab jetzt kamen in den Kasseler Versammlungen zunehmend fragwürdige Stimmen zu Wort und es wurde immer stürmischer an den Abenden. Menschen fielen unter Handauflegung zu Boden, andere keuchten und stöhnten. Konkrete Sünden wurden unter Namensnennung aufgezählt, auch Kritik und Lästerungen soll vorgekommen sein. Es kam allerdings auch zu bizarren Szenen, „wenn z. B. ein Hauptredner in der Ekstase anfing, mit der Bibel … auf eine vor ihm sitzende Frau loszuschlagen, die dann erschreckt weglief … Oder wenn ein Pastor, zu Boden gefallen, die Zähne zusammenpresste und … sich einer Schlange gleich auf dem Boden zwischen den Stühlen der Zuhörer“ hindurch bewegte.24 Allerdings sind die Berichte im Lauf der kommenden Jahrzehnte zunehmend legendär ausgeschmückt worden – Kassel wurde also zum Mythos!
Am 25. Juli reisten die beiden Norwegerinnen mit ihrer Übersetzerin unter Protest ab. So ist es eine böse Verdrehung der Tatsachen, wenn Dallmeyer sie 1910 als „irregeführte Gotteskinder“ bezeichnet, die „von einen falschen Geist besessen“ gewesen seien.25 Offensichtlich hatten gerade sie, die kaum Deutsch verstanden, die höhere geistliche Sensibilität. Die Versammlungen arteten nun aus und wurden wegen Tumulten auf der Straße am 2. August durch die Polizei geschlossen. Das Konsistorium der Evangelischen Kirche hatte inzwischen die Gemeinden vor der „unevangelischen“ und „ungesunden“ Bewegung gewarnt.26 Die Pfingstbewegung war verbrannt.
4. Ein Riss geht durchs Land …
Während eine parallele Erweckung in Großalmerode dank umsichtiger Leitung gesund verlief, machte „Kassel“ im ganzen Land Schlagzeilen. Die nun folgenden zwei Jahre bis zur B.E. erzähle ich kurz im Überblick.
Dallmeyer hatte sich verunsichert zurückgezogen und überließ es seinem Bruder August, in einer eigens einberufenen Versammlung zu erklären: „Das, was bei uns geschehen ist, war alles von unten.“ Treffend konterte ein Laienbruder: „Der Mietling aber sieht den Wolf kommen und flieht, denn er ist ein Mietling und achtet die Schafe nicht.“27 Doch Heinrich bekommt von führenden Brüdern (vor allem Johannes Seitz) eher Stoff, der dem Pauschalurteil „von unten“ Vorschub leistete, statt sich einer persönlichen Manöverkritik zu stellen. Noch auf der Blankenburger Allianz-Konferenz im August 1907 verteidigt er seine Versammlungen, während kritische Mitbrüder bereits fragten: „Haben die Brüder wirklich die Tragweite dessen erwogen, dass sie jeden Ausspruch eines Zungenredners als Worte des Herrn bezeichneten?“ (so Otto Schopf)28 Auch Elias Schrenk, der Kassel noch voller Dankbarkeit verlassen hatte, warf der Leitung „einen tiefen Mangel an Geisteslicht“ vor.
Ende November erscheint Dallmeyers Widerruf, der über den christlichen Blätterwald sofort durchs Land geht: „Der treibende Geist in der ‚Los Angeles-Bewegung‘ (ist) nicht der Geist Gottes, sondern ein Lügengeist.“29 Dallmeyer beugt sich darüber, „dass ich dem Geist der Zungenredner gegenüber nicht von vornherein die rechte Wachsamkeit besaß und dass ich ihn aus diesem Grund nicht prüfte.“ Schließlich bittet er „alle Seelen, sich dem Einfluss dieses Geistes gänzlich zu entziehen.“ Meyer aus Hamburg bezeugt rückblickend, dass Dallmeyer zu dieser Zeit seelisch völlig instabil war, ein Mann voller Skrupel und Zweifel.30 Doch sein Widerruf zieht Kreise. Die Schrift seines Bruders August über „Satan unter den Heiligen“ verunsichert die Gläubigen. Während kirchliche Kreise eine disziplinarische Untersuchung Dallmeyers forderten, blieb der geistliche „Knackpunkt“ in Gemeinschaftskreisen verborgen.
Ein letzter Verständigungsversuch hätte die Konferenz in Barmen im Dezember 1907 werden können. Befürworter und Gegner der neuen Bewegung waren hier noch zusammen und rangen um einen gemeinsamen Weg:
„Wir bekennen, dass Gott auch in unseren Tagen alle biblischen Geistesgaben geben kann. Die Gemeinde muss sich aber zubereiten lassen.“
Im Blick auf Kassel heißt es, „dass es in einem erschreckend hohen Maße an der Prüfung der Geister … gefehlt hat“ und …
„Wir bekennen diese Armut als eine Schuld“ und „bitten alle Geschwister dringend, sich mit uns darüber zu beugen und ernstlich zu flehen, dass der Herr sich unserer erbarme …“
Die Konferenz von Barmen betont zwar die Notwendigkeit, „sich gegen jeden fremden Geist abzuschließen“, mahnt aber, „sich eine heilige Zurückhaltung aufzuerlegen“ (5.). Man wolle ein Jahr lang nichts weiter veröffentlichen und in drei Monaten wieder zusammenkommen und beraten. Dazu kam es allerdings nicht mehr.31 Tragisch ist nur, dass die Debatte schnell personalisiert wurde und die Stimmung sich gegen Jonathan Paul richtete, der mit Kassel nicht das Geringste zu tun hatte. So gab Elias Schrenk die Losung aus, die in Richtung B.E. führen sollte: „Die Paul’sche Irrlehre vom reinen Herzen hat dem Zungengeist die Tür geöffnet.“32 Dallmeyer jedoch, der seinen eigenen Widerruf zur Diskussion stellen wollte, wurde in falsch verstandener Brüderlichkeit geschont.
Das Jahr 1908 war geprägt von einer weiteren Ausbreitung der Pfingstbewegung in Deutschland. Aus dem ganzen Reich kamen Berichte über eine neue Ausgießung des Geistes.33 Der Austausch mit Vertretern aus Skandinavien, England, den Niederlanden und der Schweiz ging weiter. Unter der Federführung Jonathan Pauls entstand die neue Zeitschrift „Pfingstgrüße“. Ausgewogen erscheinen uns heute seine damaligen Aussagen: „Wir sind nicht der Meinung, dass nur diejenigen den Heiligen Geist empfangen haben, welche zu Zungenreden gelangt sind. Ebenso ist uns das Zungenreden an sich kein Beweis dafür, dass jemand mit dem Heiligen Geist erfüllt ist.“34 Bereits im Februar 1909 betont Paul die Frucht des Geistes als „die Hauptsache“.35
Im Jahr 1909 kommt es in Mülheim zu bedeutenden Konferenzen, auf denen sich ein Reichtum an Geistesgaben zeigte und signifikante Heilungen zu verzeichnen waren. „Auch freuen wir uns, dass uns der Herr vor auffallenden Szenen bewahrt“, wussten die „Pfingstgrüße“ zu berichten.36 Im Herbst 1909, kurz nach der B.E. waren zur Pfingstkonferenz 2.500 Teilnehmer aus ganz Europa angereist. 10.000 waren es auf zusätzlichen Parallelversammlungen. Doch der Riss im Land war unaufhaltsam …
5. Die Berliner Erklärung und ihre Wirkung
Seit Frühjahr 1909 wuchs die Unruhe bei führenden Männern des Gnadauer Verbandes: „Können wir eigentlich länger zusehen, wie Brüder in immer weiterem Umfange in die Zungenbewegung sich hineinziehen lassen?“ (so General von Viebahn gegenüber Michaelis).37 Der nächste Schritt war eine Zusammenkunft im August, bei der man beschloss, eine hochkarätig besetzte Versammlung nach Berlin einzuberufen.38 Bereits die persönliche Einladung an 60 führende Männer aus Gemeinschaftskreisen und Freikirchen enthielt eine Art Vorverurteilung. So wird Jonathan Paul ultimativ aufgefordert, der Bewegung völlig zu entsagen.39 Bezeichnenderweise war niemand von den Vertretern der Pfingstbewegung eingeladen. Denn „wenn wir die einladen, würden wir nie zur Scheidung von ihnen kommen.“40 Die Einladenden waren festgelegt: Man wollte die Trennung nicht nur von falschen Geistern, sondern auch von deren Trägern. 19 Stunden verhandelte man im „St. Michaels-Hospiz“ in der Schönwalder Straße. Am Ende unterzeichneten 56 der Anwesenden die berühmt gewordene „Berliner Erklärung“. Tatsächlich war hier im Berliner Bezirk Wedding die Deutsche Evangelische Allianz repräsentativ versammelt. Merkwürdig erscheint, dass von der B.E. weder ein Protokoll noch eine Urkunde existiert. Otto Stockmeyer (1838-1917) beispielsweise, der aufgrund von unwahren Behauptungen unterschrieben hatte, wollte später noch vor seinem Tod „meine Unterschrift zurückziehen“ und darüber hinaus „eine Revision jener Erklärung veranlassen“. Doch ich „fand keinen Weg, wie ich meine Unterschrift hätte wieder rückgängig machen können.“41
Und nun zur B.E. selbst, einem Dokument mit sechs Punkten, das „in tausenden von Exemplaren“ ins Land ging. Schlagzeilen machten folgende Spitzensätze, die Geschichte schrieben:
- „Die sogenannte Pfingstbewegung ist nicht von oben, sondern von unten … Es wirken in ihr Dämonen, welche, vom Satan mit List geleitet, Lüge und Wahrheit vermengen, um die Kinder Gottes zu verführen. In vielen Fällen haben sich die sogenannten Geistbegabten nachträglich als besessen erwiesen …“
- „Eine derartige Bewegung als von Gott geschenkt anzuerkennen ist uns unmöglich …“ Obwohl es hier und das wirkliche Segnungen gegeben habe, ändere dies nichts am „Lügencharakter der ganzen Bewegung …“
- „Wir glauben, dass es nur ein Pfingsten gegeben hat … Wir erwarten nicht ein neues Pfingsten, wir warten auf den wiederkommenden Herrn.“ Die B.E. schließt mit dem Apell: „Haltet euch von dieser Bewegung fern! Wer aber unter die Macht dieses Geistes geraten ist, der sage sich los und bitte Gott um Vergebung und Befreiung.“42
Die pauschale Verurteilung der Pfingstbewegung hatte im Deutschen Reich eine enorm polarisierende Wirkung. Gnadaus Richterspruch wurde für die innerlich aufgewühlten Gemeinschaftskreise verbindlich. Abwartende Geschwister und solche mit „neutral-wohlwollender Gesinnung“ wurden hin und her im Land ausgeschlossen.43 Eine Einigung war nur noch unter der Voraussetzung möglich, dass die Führer der sog. „Zungenbewegung“ zugeben würden, dämonischen Mächten verfallen zu sein. Dieser Vorwurf ist mit wenigen Ausnahmen in keinem anderen Land der Welt so absolut erhoben worden!44 „Ein Bruder verrät den anderen“, beschreibt ein Gemeinschaftsblatt Ende 1909 die vergiftet Atmosphäre in deutschen Allianz-Kreisen. „Einer verpetzt den anderen, Verdächtigungen sind an der Tagesordnung. Es ist Zeit, dass das Volk Gottes aufwacht aus dem Traum, dass wir schon eine geisterfüllte Gemeinde seien.“45 Ernst Modersohn, Förderer der Erweckung in Mülheim, entschloss sich erst nach langem Ringen, die Pfingstbewegung fallen zu lassen. „Es war mir eine innere Unmöglichkeit, mich dieser Bewegung anzuschließen. Aber es war mir auch nicht möglich, mit den Gegnern gemeinsame Sache zu machen. Es wurde damals fast alles für dämonisch erklärt.“46
Auf einer Gemeinschaftskonferenz ein Jahr später in Patmos (September 1910) fragte man sich zu Recht: „Wie kann der Riss in der Gemeinde Jesu geheilt werden?“ Doch wiederum wurde viel belastendes Material über die Pfingstbewegung zusammengetragen. Geistgetaufte hätten sich „als grauenhaft besessen“ entpuppt. Ein letztes Mal bekam Jonathan Paul das Wort. „Seine Ruhe und sein würdiges Auftreten haben mich stark beeindruckt“, erinnert sich ein Zeitzeuge.47 Doch der Riss verfestigte sich und man fand für Jahrzehnte keine Brücken mehr zueinander.
Auch ein letzter Vermittlungsversuch im September 1910 blieb erfolglos. Unter Federführung von Pastor Paul kam es in Vandsburg zu einer öffentlichen Bußerklärung führender Pfingstler: „Christen erster Klasse“ hätten sich überhoben und Geschwistern ohne die Gabe der Zungenrede „die Innewohnung des Heiligen Geistes abgesprochen“, heißt es darin. „Solche Vorkommnisse sind uns tiefer Schmerz, und wir bekennen unsere Mitschuld daran.“48 Die Gruppe der sog. Neutralen ließ kurze Zeit später ihrerseits eine Erklärung folgen und schlug ebenfalls verständnisvolle Töne an. Hier waren immerhin 38 führende Gemeinschaftsleute versammelt, die den Unterzeichnern der B.E. vorwarfen: „Indem man die ganze Bewegung als von unten oder sogar dämonisch bezeichnet, irrte man schwer.“ Doch die radikalen Pfingstgegner gingen endgültig zum Angriff über. Die Vandsburger Erklärung wurde als „Beichte der Sündlosen“ verhöhnt und den Neutralen vorgeworfen, sie würden der Pfingstbewegung „Vorspanndienste“ leisten.49 „Ich bitte daher alle Gläubigen, die bei der gesunden Schriftlehre bleiben wollen, fest bei der Berliner Erklärung zu verharren und sich aller Arbeitsgemeinschaft mit ganzen oder halben ‚Pfingstleuten‘ zu enthalten“, verfügte Elias Schrenk.50 Anfang 1911 wurden die Neutralen vor die Alternative gestellt, entweder die Pfingstler fallen zu lassen oder aus dem Gnadauer Verband auszuscheiden. Sie blieben – und gaben „jede Arbeitsgemeinschaft mit den Zungenleuten auf.“51 Heinrich Dallmeyer jedoch, der Kassel zu verantworten hatte, bekämpfte die „Zungenleute“ immer fanatischer. Bis zuletzt hieß seine Losung, „dass ich mit dem Geist der Zungenbewegung weder in dieser noch in jener Welt etwas zu tun haben möchte.“52
6. Geistliche Konsequenzen – der Versuch einer Deutung
Bei dieser Konferenz geht es um die geistlichen Konsequenzen der B.E. für unser Land. Zunächst sollten wir uns jedoch bemühen, die gedanklichen Voraussetzungen zu verstehen, die hinter den massiven Formulierungen stecken. Am besten gelingt dies, wenn man neben die B.E. die Mülheimer „Antwort auf die Berliner Erklärung“ stellt, die genau zwei Wochen nach dem 15. September auf der zweiten großen Pfingstkonferenz verabschiedet wurde. Damals hoffte man noch, als gleichwertiger Partner der Evangelischen Allianz anerkannt zu werden und wusste sich trotz des harten Urteils „von unten“ noch „mit den teuren Brüdern völlig eins“. Es ist uns „ein tiefes Bedürfnis, mit dem ganzen Volk Gottes in brüderlicher Verbindung zu bleiben,“ heißt es in der Vorrede.53 Die Mülheimer Erklärung ist – nach meiner Einschätzung – eine theologische Kostbarkeit und zeigt auf beeindruckende Weise, wie differenziert die Leiter der noch jungen Pfingstbewegung damals mit dem Auftreten der Charismen umgingen.
1. Die B.E. führte durch Schwarz-Weiß-Denken zu Einschüchterung
Die B.E. ist durchzogen von einem ausgeprägten Schwarz-weiß-Denken. Man rechnet im Blick auf die Geistesgaben zwar auch mit der Kategorie „hysterisch oder seelisch“ (1.e), doch primär wird die gesamte Pfingstbewegung in die Ecke des „Spiritismus“ gerückt. In ihr wirken listige, als selbst von Gotteskindern schwer durchschaubare „Dämonen“ (Satan in Lichtgestalt). Insofern hat die Bewegung „Lügencharakter“ und man möge sich so schnell wie möglich von der „Macht dieses Geistes“ lossagen. Das „nicht von oben, sondern von unten“ nachträglich als „seelisch, allzu menschlich“ zu deuten, ist lieb gemeint, trifft aber nicht die Intention der Unterzeichner. So naiv Dallmeyer in Kassel jede Äußerung des „Geistes“ für bare Münze nahm, so radikal schüttete man jetzt das „Kind mit dem Bade“ aus.
Die Mülheimer Erklärung dagegen sah – durchaus selbstkritisch – „die Gefahr menschlicher Einwirkung in erster Linie und dämonischer Beeinflussung erst in zweiter Linie.“ Anhand einer bemerkenswerten Deutung der Prophetien, die Paulus kurz vor seiner Verhaftung erhielt (Apg 20,21 – 21,14), machen die Mülheimer einsichtig, dass bei prophetischer Rede immer auch Wunschdenken mitschwingen kann. „Wir lesen aber nicht, dass Paulus daran denkt, dass irgendein Lügengeist von ihnen Besitz genommen haben könnte.“54 Bis heute wegweisend ist der Hinweis, dass vom Heiligen Geist gewirkte Gaben immer auf einen Menschen mit seinem natürlichen Verstand treffen (vgl. 1.Kor 14), dass Gott also niemals „einen Propheten zur bloßen Maschine macht“ (1.). Die Vertreter der B.E. gerieten jedoch in ein Denkschema, das eher zum Okkultismus passt und Geistbegabte wie ein Medium ansieht. Entsprechend wurden nun überall im Land die Zungenredner „geprüft“ – und oft schwer beschädigt!
2. Die B.E. verzerrte das eigene Geschichtsbild
Die B.E. verfestigt eine Geschichtsdeutung, wonach ein fremder Geist über unser Land gekommen sei, den es jetzt nur noch abzuweisen gelte. Durch den Pfingstgeist drohe gleichsam Ansteckungsgefahr, daher müsse man die Geschwister impfen.55 Tatsächlich sehen sich die Unterzeichner als Repräsentanten des gesamten Leibes Christi: „Die Gemeinde Gottes in Deutschland hat Grund, sich tief zu beugen, dass diese Bewegung Aufnahme finden konnte“, heißt es im 3. Abschnitt. Damit haben die in Berlin Versammelten ihre eigene geistliche Erwartungshaltung verleugnet, die kurz zuvor noch lebendig war und z.T. von ihnen selbst formuliert wurde. Ein Mann wie Elias Schrenk vertrat durchaus die Erwartung eines persönlichen Pfingsten im Sinne einer höheren Stufe – doch nach der B.E. lehnte er die „Dreistufentheorie“ als „unbiblisch und gottlob auch durch und durch undeutsch“ ab.56
Letztlich schnitt man den deutschen Pietismus von eigenen Segenslinien ab – hatten doch bereits die Herrnhuter von ihrem „Pfingsttag“ gesprochen: Der 13. August 1727 ist als ein „Tag der Ausgießung des Heiligen Geistes über die Gemeinde“ in die Geschichte eingegangen.57 Nun aber proklamiert die B.E.: „Wir erwarten nicht ein neues Pfingsten, wir warten auf den wiederkommenden Herrn“ (5). Jegliche Sehnsucht nach einem „Mehr“ an persönlicher Geisterfahrung stand fortan unter dem Generalverdacht des „Schwarmgeistigen“.
3. Die B.E. verursachte Isolation und Lagerbildung
Die B.E. hat Brüder nachhaltig getrennt und zur Lagerbildung in Deutschland geführt. Wer von „Satan mit List“ verführt ist, kann eigentlich nur als Sektierer angesehen werden. Soziologisch waren die Folgen verheerend: Pfingstler wurden zur Sondergruppe, die bis heute um ihre Gleichberechtigung in den örtlichen Allianzen kämpfen muss. Damit waren auch die Gaben des Geistes gleichsam ins Ghetto gesperrt. Als es im sog. „Dritten Reich“ zu warnenden prophetischen Worten in einigen Pfingstgemeinden kam, konnten diese landesweit kein Gehör mehr finden. Der prophetische Geist in Deutschland war nachhaltig behindert.58
Psychologisch gesehen wirkte die B.E. traumatisierend – für beide Seiten. Wer Traumatisches erlebt, neigt dazu sich zu isolieren und einen Selbstschutz aufzubauen. Die Gnadauer schotteten sich über Generationen ab gegenüber allem, was ihnen „unnüchtern“ erschien – und förderten damit Rationalismus und religiöse Kontrolle in ihren Kreisen. Die Mülheimer als die Hauptleidtragenden traten künftig nur noch sehr leise auf, bis ihre Versammlungen kaum noch unterscheidbar waren von einer landeskirchlichen Gemeinschaft. Nur die freien Pfingstgemeinden praktizierten weiterhin recht unbekümmert die Geistesgaben, verloren jedoch teilweise das Gefühl für größere Zusammenhänge im Leib Christi. Verletzungen können als Gegenreaktionen ebenso zu Depression wie zur Opposition führen.
Ein weiterer Aspekt ist der Rückzug des deutschen Pietismus ins Nationale. Die Bereitschaft, von erwecklichen Aufbrüchen im Ausland zu lernen, war nachhaltig beschädigt. Es wirkt gruselig, wenn man bedenkt, dass die Massen fünf Jahre nach der B.E. auf Berlins Straßen skandierten: „Deutschland, über alles!“ Das Kaiserreich stolpert wie im Taumel in den ersten Weltkrieg hinein. England wird zum Erzfeind. Es folgen Jahrzehnte der größten Täuschung unseres Landes.59
4. Die B.E. verdrängte die Heiligungslehre an den Rand
Die einzige Person, die in der B.E. namentlich erwähnt wird, ist Jonathan Paul. Mit ihm als angeblichem Irrlehrer wird auch „die unbiblische Lehre vom sogenannten reinen Herzen“ verurteilt (4.). An brüderlicher „Aussprache mit ihm und an Ermahnungen“ habe es nicht gefehlt (5.). Dennoch sei er unbelehrbar und behaupte, „dass das Herz in sich einen Zustand der Sündlosigkeit erreichen könne.“ Dadurch würden „viele Kinder Gottes“ in ihrem Verhalten zur „Unaufrichtigkeit“ verleitet (4.).
Vergeblich versuchte die Mülheimer Erwiderung richtig zu stellen, dass Pastor Paul immer wieder betont habe, „dass man nur in Christo und nicht in sich von der Sünde gereinigt sei.“ Hier transportierte die B.E. ihrerseits einen „Irrtum“ durchs Land (2.) und verleumdete einen geistlichen Leiter, bei dem selber Kritiker „die Heiligkeit Gottes“ spürten.60 Paul selbst jedoch übte zehn Jahre später öffentlich Selbstkritik: „Ich habe nie danach gegeizt, dass man von einer Paul’schen Lehre reden möchte; aber weil mein eigener Geist geschäftig war, ein Lehrsystem aufzubauen …, so ist es doch geschehen; so hat mein Geist dem Herrn im Weg gestanden. Das ist mein tiefer, großer Schmerz, und da möchte ich euch alle, die ihr hier seid, recht herzlich um Verzeihung bitten.“61
Das Streben nach Heiligung teilte Paul jedoch mit dem gesamten Pietismus seiner Zeit. Die Gemeinschaftsbewegung am Beginn des letzten Jahrhunderts war zum großen Teil Heiligungsbewegung! Doch die B.E. stellte nun zusammen mit der Pfingstbewegung auch den Wunsch nach einem geheiligten Leben ins Zwielicht. Indem Paul und den Mülheimern Irrlehre vorgeworfen wurde, bekam das Ringen um ein neutestamentlich begründetes Heiligungsverständnis einen empfindlichen Schlag – wo doch genau dieser Aspekt der Nachfolge in Deutschland ohnehin schwach entwickelt ist. Die Reformation Martin Luthers betonte „Rechtfertigung“, hinterließ beim Thema „Heiligung“ jedoch starke Defizite, die der Pietismus nicht mehr korrigieren konnte.62 Auch in diesem Bereich geistlichen Lebens haben wir bis heute – Evangelikale, Liberale, Charismatiker – großen Bedarf an Wiederherstellung.
Mein Fazit:
Anfang des 20. Jahrhundert stand der Heilige Geist in Deutschland gleichsam im Türrahmen. Neue Töne wurden hörbar. Frischer Wind strömte herein. Die Hoffnung auf einen weltweiten Aufbruch stand im Raum. Doch wo der Geist auf deutschen Boden stieß, offenbarte sich auch Unreife, Ehrgeiz, Machtstreben, Verhärtung. Deutscher Perfektionismus ließ keinen Raum mehr für durchaus nötige und auch noch mögliche Lernerfahrungen. Wir wurden Weltmeister der Polarisierung und der Teilung. Doch Gott ist treu. Er vergisst seine Verheißungen nicht (vgl. Röm 11,29). Er entlässt Deutschland nicht aus dem Fokus seiner Gnade. Und er ist entschlossen, uns zu einem Beispiel der Wiederherstellung und zu einem Werkzeug des Segens für andere Völker zu machen. Deshalb sind wir heute hier zusammen.
Komm, Heiliger Geist!
Anmerkungen (1 – 37)
1 Licht und Leben (im Folgenden: „L.u.L.“), Nr. 8, 1901; zit. nach: Jost Müller-Bohn, Entscheidende Jahrhundertwende, Reutlingen 1972, S. 113
2 LuL Nr. 13, ebd., S. 170
3 L.u.L. Nr. 24, 1904, ebd., S. 183, 185
4 Nr. 6, 1905, ebd., S. 196
5 L.u.L., Nr. 23, 1905, ebd., S. 211; sowie L.u.L., 13. Jg., Nr. 2
6 Christian Hugo Krust, 50 Jahre deutsche Pfingstbewegung, Altdorf 1958, S. 35; Aktuell dazu: Ekkehart Vetter, Jahrhundertbilanz – erweckungsfasziniert und durststreckenerprobt, 100 Jahre Mülheimer Verband Freikirchlich-Evangelischer Gemeinden, Bremen 2009
7 Krust, S: 10
8 zit. nach: Die Kirchen der Welt, Band VII: Die Pfingstkirchen, Hrsg. Walter J. Hollenweger, Stuttgart 1971, S. 62
9 Nr. 22, zit. nach Müller-Bohn, S. 210
10 Hollenweger, S. 29
11 zum Folgenden: Ernst Giese, Und flicken die Netze, Metzingen 1976, S. 54ff
12 ebd., S. 54
13 Otto Ruprecht, Zum Dienst bereit, 1931, zitiert bei Giese, S. 57
14 Heinrich Dallmeyer, Sonderbare Heilige in Cassel, 1907, zitiert bei Giese, S. 63 (diese Darstellung ist dem späteren, tendenziös gefärbten Bericht von 1924 vorzuziehen)
15 zit. nach Giese, S. 65
16 Otto Kaiser, Erlebnisse und Erfahrungen mit der Pfingstbewegung, 1948, zitiert bei Giese, S. 67
17 Dallmeyer, S. 79
18 Kaiser / bei Giese, S. 65ff
19 nach Dallmeyer, S. 43f
20 ebd., S. 66
21 Paul Fleisch, Die Pfingstbewegung in Deutschland, Hannover 1957, S. 45
22 Otto Schopf, Zur Casseler Bewegung, 1907, zit. nach Giese, S. 90
23 Otto Ruprecht, Zum Dienst bereit, 1931, zit. nach Giese, S. 110, S. 181 (Giese macht in seiner Untersuchung wahrscheinlich, dass Dallmeyer bei einer Aussprache am 21. Juli „in einem kleinen Kreise“ jene nächtliche Sitzung unerwähnt ließ, S. 56)
24 Paul Fleisch, Die innere Entwicklung der deutschen Gemeinschaftsbewegung in den Jahren 1906 und 1907, 1908, S. 76f
25 Auf der Warte Nr. 51, 1910, zit. nach Giese, S. 153
26 zit. nach Lange, S. 182
27 zit. nach Ernst Giese, Jonathan Paul, Ein Knecht Jesu Christi, Altdorf 1965, S. 127
28 Otto Schopf, zit. nach Giese, Und flicken …, S. 94, S. 86
29 Dallmeyer, S. 91-93
30 Fleisch, Pfingstbewegung, S. 64
31 zit. Nach: Dieter Lange, Eine Bewegung bricht sich Bahn, Gießen 1979, S. 187f; Vetter, S. 102
32 zit. nach Giese, Paul, S. 139
33 Giese, Und flicken …, S. 121
34 so Fleisch, Pfingstbewegung, S. 77
35 zit. nach Krust, S. 64
36 Paul Fleisch, Die Zungenbewegung in Deutschland, 1914, S. 22
37 Walter Michaelis, Erkenntnisse und Erfahrungen aus fünfzigjährigem Dienst am Evangelium, 31966, S. 226
Anmerkungen (38 – 62)
38 Werner Beyer, Prediger des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes und früherer Direktor der Bibelschule Falkenberg hat in minutiöser Arbeit die Vita der 56 Unterzeichner der B.E. zusammengestellt – bei Vetter, S. 435-447
39 Fleisch, Pfingstbewegung, S. 110
40 zit. nach Eugen Edel, Der Kampf um die Pfingstbewegung, Altdorf 1966, S. 25
41 zit. nach Giese, Paul, S. 163
42 Text bei: Vetter, S.109f
43 Krust, S. 71
44 In Chile, aber auch in anderen Ländern Lateinamerikas, wurde die Pfingstbewegung abgelehnt mit gleichlautenden Formulierungen: Sie sei „nicht von oben, sondern von unten“ und „vom Satan“. – Diesen Hinweis verdanke ich Gerhard Bially, Charisma-Verlag
45 Großmann, In: Forschet in der Schrift, 1909/10, zit. nach Fleisch, Pfingstbewegung, S. 163
46 Modersohn, S. 234
47 zit. nach Giese, Paul, S. 173
48 Fleisch, Zungenbewegung, S. 170
49 Fleisch, Pfingstbewegung, S. 180
50 zit. nach Lange, S. 222
51 ebd., S. 223
52 Auf der Warte Nr. 42, 1917, zit. nach Giese, S. 167
53 bei Vetter, S. 118
54 ebd., S. 119
55 Alfred Lechler, Psychiater und durchaus kein Pfingstler, schrieb dazu: „Die Auffassung ist irrig und muss fallengelassen werden, dass es einen Pfingst- oder Zungengeist gebe, der sich, als Lichtengel getarnt, wie ein ansteckender Krankheitserreger von Mensch zu Mensch fortpflanze … Die Angst vor der Ansteckung durch einen sogenannten ‚Pfingstgeist‘ die heutzutage bei nicht wenigen Gläubigen noch ebenso groß ist wie vor fünfzig Jahren, ist daher durchaus unbegründet.“ –
Alfred Lechler, Zum Kampf gegen die Pfingstbewegung, Witten 1964, S. 18
56 Fleisch, Zungenbewegung, S. 156
57 Erich Beyreuther, Zinzendorf und die sich allhier beisammen finden, Marburg 1959, S. 204
58 Eine warnende Prophetie noch vor der „Machtübernahme“ Hitlers wurde 1931/32 in Kassel-Sandershausen gegeben durch den Evangelisten Paul Preis: „Ich sehe im Geist, wie sich in Deutschland Pforten der Hölle auftun und braune Frösche herauskriechen, die das Land bedecken. Es sind unreine Geister.“ – Die Mitglieder der dortigen Gemeinschaft des Mülheimer Verbandes waren gewarnt und hielten sich von 1933 an aus allen Aktivitäten der NSDAP heraus. – bei Giese, Und flicken …, S. 116
59 Wieder wird es ein 15. September sein, an dem die „Deutschen Rassegesetze“ erlassen werden: Seit dem Reichspateitag in Nürnberg 1935 galten Juden als Bürger zweiter Klasse (das sog. Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre (RGBl. I S. 1146)
60 Giese, Paul, S. 341
61 ebd., S. 219, S. 318
62 Der Lutherische Theologe Wilfried Joest arbeitet heraus, dass Luther mit der berühmt gewordenen Formel des „simul iustus et peccator“ (wir sind immer „zugleich Gerechte wie Sünder“) begonnen hat, sich „nicht nur formal, sondern auch sachlich von Paulus zu entfernen, der eine solche Reflexion auf die Unausweichlichkeit der Sünde nicht geübt hat.“ – Paulus und das lutherische simul iustus et peccator, in Kerygma und Dogma, Göttingen 1955, S. 319
Verwendete Literatur:
- Erich Beyreuther, Zinzendorf und die sich allhier beisammen finden, Marburg 1959
- Heinrich Dallmeyer, Sonderbare Heilige in Cassel, 1907
- Eugen Edel, Der Kampf um die Pfingstbewegung, Altdorf 1966
- Ludwig Eisenlöffel, … bis alle eins werden – Siebzig Jahre Berliner Erklärung und ihre Folgen, Erzhausen 1979
- Paul Fleisch, Die Pfingstbewegung in Deutschland, Hannover 1957
- Paul Fleisch, Die Zungenbewegung in Deutschland, Leipzig 1914
- Paul Fleisch, Die innere Entwicklung der deutschen Gemeinschaftsbewegung in den Jahren 1906-1907, 1908
- Großmann, In: Forschet in der Schrift, 1909/10
- Ernst Giese, Und flicken die Netze, Metzingen 1976
- Ernst Giese, Jonathan Paul, Ein Knecht Jesu Christi, Altdorf 1965
- Walter J. Hollenweger, Die Kirchen der Welt, Band VII: Die Pfingstkirchen, Stuttgart 1971
weitere:
- Wilfried Joest, Paulus und das lutherische simul iustus et peccator, (Kerygma und Dogma) Göttingen 1955, S. 319
- Adelheid Junghardt / Ekkehart Vetter (Hrsg.), Ruhrfeuer – Erweckung in Mülheim an der Rühr 1905, Mülheim 2004
- Christian Hugo Krust, 50 Jahre deutsche Pfingstbewegung, Altdorf 1958
- Dieter Lange, Eine Bewegung bricht sich Bahn, Gießen 1979
- Alfred Lechler, Zum Kampf gegen die Pfingstbewegung, Witten 1964
- Herbert Masuch, Pflüget ein Neues! Grundlagen für einen Neuanfang, Band III, Metzingen 1997
- Walter Michaelis, Erkenntnisse und Erfahrungen aus fünfzigjährigem Dienst am Evangelium, Gießen 1952
- Jost Müller-Bohn, Entscheidende Jahrhundertwende, Reutlingen 1972
- Ekkehart Vetter, Jahrhundertbilanz – erweckungsfasziniert und durststreckenerprobt, 100 Jahre Mülheimer Verband Freikirchlich-Evangelischer Gemeinden, Bremen 2009
Swen Schönheit | Ev. Apostel-Petrus-Gemeinde | 2009
Dieser Vortrag basiert auf meiner Examensarbeit zum Ersten Theologischen Examen
an der Universität Tübingen (1981)
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