Können wir Gottes Handschrift lesen?
Gericht und Gnade in unserer deutschen Geschichte
von Swen Schönheit
„Berlin, gestern, kurz vor 13 Uhr. Im Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ertönen die Glocken. Plötzlich bleiben auf dem Kurfürstendamm die Menschen stehen. Sie falten die Hände. Mitten auf der Straße fangen sie an zu beten. Bürger aus Ost- und West-Berlin – viele weinen. Einige schlagen die Hände vor das Gesicht, andere knien sich hin. Das war vielleicht der ergreifendste Augenblick in der Geschichte dieser Stadt. In der Geschichte unseres Landes.“
So war es am 11. November 1989 nachzulesen in BILD, Berlins größter Boulevard-Zeitung.
Die Jüngeren kennen die Bilder dazu nur aus dem Geschichtsbuch. Die Älteren waren Zeitzeugen der „Wende“ und sind in ihrer Biografie teilweise erheblich geprägt von deren Konsequenzen.
„Mit allem haben wir gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten.“
Dieses Zitat von Horst Sindermann, dem Präsidenten der DDR-Volkskammer, bringt es auf den Punkt: Was im Herbst 1989 an bürgerlicher Wut, aber auch an Glaubensmut zusammenkam, lässt sich nicht allein aufgrund politischer Konstellationen begreifen. Schließlich hatte Egon Krenz nach dem Blutbad in Peking im Juni 1989 die „chinesische Lösung“ der Proteste gelobt. In Deutschland stand alles auf Messers Schneide. Können wir im Rückblick Gottes Handschrift in unserer Geschichte erkennen? Verstehen wir die geistlichen Zusammenhänge, die zur Teilung unseres Landes führten, auch die dämonische Vorgeschichte im „Dritten Reich“? Können wir das Geschenk der Wiedervereinigung als Ausdruck göttlicher Gnade sehen – auf dem Hintergrund des Gerichts über unserem Volk?
Biblische Schneisen zum Verstehen unserer Geschichte
Im Folgenden möchte ich anhand der Heiligen Schrift einige Schneisen schlagen, die uns helfen können, unsere eigene Geschichte im Licht Gottes zu begreifen. Dies scheint mir von entscheidender Bedeutung
… im Blick auf die kommenden Generationen, denn die Jungen stehen immer auf den Schultern ihrer Eltern und deren Geschichte. Das Volk Israel wird im Alten Testament immer wieder aufgefordert, Gottes Handeln in der Geschichte zu feiern. Die Eltern sollen ihren Kindern von den Wundern der Vergangenheit erzählen, „damit sie ihr Vertrauen auf Gott setzen, die Taten Gottes nicht vergessen und seine Gebote bewahren“ (Psalm 78,4-8). Die Stafette muss weitergegeben werden!
… damit uns die Dankbarkeit nicht verloren geht und wir zuversichtlich nach vorne blicken können. „Da waren wir wie Träumende. … Da sagte man unter den Völkern: Groß hat der HERR an ihnen gehandelt! … Da waren wir voll Freude.“ Diese Verse aus Psalm 126 hat man in den Wochen der „Wende“ häufig gehört. Obwohl sie dem Volk Israel gelten, hatten auch wir Deutsche Anteil am befreienden Handeln Gottes. Durften die Israeliten die Sklaverei in Ägypten verlassen, so öffneten sich für die Ostdeutschen die Schlagbäume. Als Christen dürfen wie niemals vergessen, dass unsere Geschichte Zeugnis gibt von Gottes Wundern!
Ein schwarz-rot-goldener Faden durchs 20. Jahrhundert
Man braucht sich nur anhand des Datums „9. November“ auf eine Reise in die deutsche Vergangenheit zu begeben und kann einen roten Faden erkennen, der sich durch unsere Geschichte zieht. Er ist eher eine verworrene Schnur mit schwarz-braunen, blut-roten und glänzend-goldenen Aspekten. Eine Geschichte mit dramatischen Tiefen und Höhen, wie sie nur wenige Völker haben:
- Am 9. November 1918 dankt der letzte deutsche Kaiser ab. Nach dem Ende des ersten Weltkriegs wird die Republik ausgerufen. Die Jahre der „Weimarer Republik“ sind von Polarisierung und politischer Instabilität geprägt.
- Am 9. November 1923 versucht Adolf Hitler, sich in München an die Macht zu putschen. Danach muss er ins Gefängnis nach Landsberg und schreibt dort „Mein Kampf“.
- Am 9. November 1938, genau 15 Jahre später brennen im ganzen Land die Synagogen. Insgesamt werden mehr als 1.400 Gebäude in jüdischem Besitz zerstört und zehntausende deutsche Juden inhaftiert.
- Am 9. November 1989 wird in Berlin zuerst die Mauer geöffnet – 28 Jahre nach ihrer Errichtung. Deutschland vollzieht den politischen Systemwechsel, ohne dass ein einziger Schuss fällt.
- Ist dies eine zufällige Wiederholung dieses Datums (unseres „9-11“), oder gibt es innere Zusammenhänge, die sich uns durch Gottes Wort erschließen? Bei der Beschäftigung mit dem Alten Testament fällt auf, wie intensiv sich Gott um einzelne Völker kümmert – nicht nur um sein auserwähltes Volk Israel. Er spricht sie durch seine Propheten mit „du“ an, als wären sie Persönlichkeiten mit ihrer jeweiligen Lebensgeschichte, ihrem Potenzial, ihren Abwegen und Abgründen. Bis heute gilt: „Seine Augen prüfen die Völker“ (Ps 66,7).
Natürlich ist es problematisch, wenn man Aussagen über das Volk Israel eins-zu-eins auf die eigene Nation überträgt. Israel bleibt unvergleichlich. Dennoch hat Gott sein Volk gleichsam als Muster in die Völkerwelt gesetzt, damit wir auch auf nationaler Ebene lernen, welcher Segen auf dem Einhalten der Gebote liegt, welche Konsequenzen Stolz und Sünde hat und wie groß Gottes Erbarmen trotz aller Schuld ist. „Israel ist mein erstgeborener Sohn“, und Gott hatte immer vor, durch sein Geschichtshandeln an Israel seinen „Namen auf der ganzen Erde bekannt zu machen“ (2 Mose 4,22; 9,16). Dass wir Deutsche uns ausgerechnet am Erstgeborenen unter den Völkern vergriffen haben, verschärft die ganze Dramatik unserer Geschichte: Begreifen wir sie im Licht von Gottes Gnade und Gericht!
Mit der Vernichtung der Juden haben wir Gott beleidigt
„Denn so spricht der HERR der Heerscharen … gegen die Völker, die euch ausgeplündert haben: Wer euch antastet, tastet meinen Augapfel an“ (Sach 2,12). Bisher ist noch jede Nation in Schwierigkeiten geraten, die Juden unterdrückt, enteignet, vertrieben oder ermordet hat. Deutschland war Mitte des 20. Jahrhunderts die Speerspitze eines Judenhasses, der weltweit unterwegs war. An unserer Geschichte zeigt sich die Wirksamkeit der alten Verheißung, die Gott Abraham und seinen Nachkommen gegeben hat: „Ich werde segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den werde ich verfluchen. Durch dich sollen alle Sippen der Erde Segen erlangen“ (1.Mose 12,3). Deutsche Juden waren in den 1930er Jahren fest verwurzelt in der Gesellschaft und hatten die Kultur tiefgreifend geprägt. Umso überraschter waren sie von der irrationalen Wucht des aufziehenden Nationalsozialismus!
Das Imperium rund um Adolf Hitler („Tausendjähriges Reich“) ist rückblickend schnell entlarvt, wenn man bestimmte Schlüsselworte mit Aussagen der Bibel vergleicht: Der Glaube an die „Volksgemeinschaft“ mit dem Gedanken der Erwählung; „Kraft durch Freude“ (Neh 8,10); „Sieg! Heil!“ (Offb 5,5; 19,1); „Treue bis in den Tod“ (O ffb 2,10) usw. Als „Führer“ löste Hitler messianische Hoffnungen aus und pervertierte das biblische Erbe für seine dunklen Zwecke. Letztlich wurde Deutschland zum Träger einer Erweckung („Nationale Erhebung“, „Deutschland erwache!“), die ihren Ursprung in okkulten Quellen hatte. Deshalb lässt sich das „Dritte Reich“ rein psychologisch in der Tiefe nicht begreifen. Wir Deutsche waren offenbar besonders empfänglich für einen dämonisch inspirierten Aufbruch im Herzen Europas, der am Ende Millionen von Menschen Leib und Leben kostete. Wie „totaler Krieg“ aussah, auf den Josef Goebbels die Massen 1943 im Berliner Sportpalast eingeschworen hatte, bekam Deutschland im Feuersturm von Hamburg, Darmstadt, Dresden, Köln und vielen anderen Städten wenig später zu spüren. „Täuscht euch nicht: Gott lässt seiner nicht spotten; denn was der Mensch sät, wird er auch ernten“, mahnt der Apostel Paulus (Gal 6,7).
Dietrich Bonhoeffer war einer der wenigen unter den deutschen Theologen, der hier klar sah: 1943, als der Holocaust schon seinen unheilvollen Lauf nahm, schrieb er: „Eine Verstoßung der Juden aus dem Abendland muss die Verstoßung Christi nach sich ziehen; denn Jesus Christus war Jude.“
Der Gott Israels ist damals wie heute entschlossen, Götzendienst zu ahnden und Blutschuld aufzudecken: „Bei denen, die mir feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation“ (2 Mose 20,5-6). Davon redet die Geschichte unseres Landes, das bis in unsere Zeit hinein mit Spätfolgen aus der großen Täuschung des „Dritten Reiches“ zu tun hat.
Die Teilung Deutschlands ist ein Ausdruck von Gottes Gericht
„Hätte der HERR der Heerscharen für uns nicht einige Entkommene übriggelassen, wir wären wie Sodom geworden, wir glichen Gomorra“ (Jes 1,9). Bezeichnender Weise trug der Luftangriff auf Hamburg im Sommer 1943, dem rund 35.000 Menschen zum Opfer fielen, den Codenamen „Operation Gomorrha“! Und nach der Kapitulation 1945 empfand ein amerikanischer Offizier die Stadt Berlin wie ein „brennender, rauchender, explodierender und Tod verbreitender Vulkan“. 600.000 Wohnung der einst so stolzen Reichshauptstadt lagen in Trümmern. Es war die „Stunde null“ für Deutschland! Wie tief die deutsche Teilung uns wenig später ins Herz traf, ließ sich in Berlin am Potsdamer Platz mit Händen greifen. Einst als verkehrsreichster Platz Europas bekannt, war er nur noch eine riesige Brache und ging in einem Todesstreifen unter, der hier am breitesten war. Das Herz der Stadt war erstarrt. Viele Male war ich dort, habe jeden Berlin-Besucher dorthin geführt und durfte gemeinsam mit anderen Christen für unsere geteilte Stadt beten.
„Gerechtigkeit erhöht ein Volk, der Völker Schmach ist die Sünde“ (Spr 14,34). In der Geschichte Israels gibt es wiederum eine erstaunliche Parallele für den Verlust staatlicher Souveränität und Integrität als Konsequenz der Sünde: Nachdem sich das mächtige und prächtige Königreich Salomos in Götzendienst verkehrt hatte, kam es zur Teilung des Reiches. Nord und Süd standen sich phasenweise erbittert gegenüber, bis hin zum „Bruderkrieg“. Das Nord-Reich („Israel“) ging schließlich im Assyrischen Großreich unter, und auch das Süd-Reich („Juda“) verlor seine staatliche Souveränität durch das Exil in Babylon. Ebenso war Deutschland besetztes Land und wurde durch die Aufteilung der Zonen zum „Puffer“ im Ost-West-Konflikt. Gott sagt durch seinen Propheten sogar zu Israel: „Darum versperre ich dir den Weg mit Dornengestrüpp und verbaue ihn mit einer Mauer“ (Hos 2,8). Die Mauer, die versperrten Straßen, die Teilung von Stadt und Land – darin fand Gottes Gericht über unseren Götzendienst und unsere Blutschuld seinen drastischen Ausdruck. Doch 40 Jahre nach Gründung der BRD und der DDR schlug der barmherzige Gott ein neues Kapitel auf …
Mit dem Fall der Mauer schlägt Gott ein neues Kapitel auf
„Wir danken alle Gott.“ So zitiert die „Berliner Zeitung“ im November 1989 auf ihrer Titelseite den damaligen Berliner Bischof Martin Kruse. Und Willy Brandt, der 1984 noch gefordert hatte, „die fruchtlose Diskussion“ um die Wiedervereinigung endlich zu beenden, geht mit seinem Ausspruch in die Geschichte ein: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Deutschland hat vor den Augen der Weltöffentlichkeit eine neue, historische Chance bekommen.
„Das Tor ist offen!“ Das gilt für das symbolträchtige Brandenburger Tor und nun überall entlang der innerdeutschen Grenze.
„Wo die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden“ (Röm 5,20).
Doch können wir Gottes gnädige Hand hinter dem Geschehen der Wiedervereinigung sehen? Was wollte er uns Deutschen damit sagen, die im Herbst 1989 als „das glücklichste Volk der Welt“ galten (so Walter Momper, damals Berliner Bürgermeister)?
Wiederum kann uns ein Blick in die Geschichte Israel helfen, unseren eigenen Weg zu verstehen. Gott vergibt seinem Volk nicht nur: „Ich habe weggewischt deine Vergehen wie eine Wolke und deine Sünden wie Nebel. Kehr um zu mir; denn ich habe dich erlöst.“ Er findet auch Worte, die Israel „zu Herzen“ gehen: „Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott“ (Jes 44,22; 40,1-2). Ausgerechnet Jerusalem, das sich gegen Gott aufgelehnt hat, von ihm bestraft und durch feindliche Truppen zerstört wurde, soll nun wiederhergestellt werden: „Denn der HERR hat Zion getröstet, getröstet all ihre Ruinen. … Ich bin es, ja, ich, der euch tröstet“ (Jes 51,3.12). So kann nur der Gott Israels sprechen! Und ich bin überzeugt: Er hat auch unser Volk gnädig angesehen und liebevoll berührt. Deshalb der 9. November 1989. In Deutschlands Geschichte bleibt es vor den Augen der Völker eingraviert: Wir sind das Land der unverdienten Gnade!
Die Kernfrage bleibt: Wie reagieren wir auf Gottes Gnade?
Jesus hat einmal zehn Männer, die an Aussatz erkrankt waren, geheilt. Doch nur einer „kehrte um … und lobte Gott mit lauter Stimme.“ Nur diesem einen, dankbaren Menschen spricht Jesus zu: „Dein Glaube hat dich gerettet“ (Lk 17,11-19).
Wenn Gott uns als Volk berührt, geheilt, wiederhergestellt und international zu Ehren gebracht hat, dann stellen sich einige wichtige Fragen – gerade im Blick auf die zukünftige Entwicklung in Deutschland:
- Ist unser Selbstbild als Volk und sind unsere Zukunftsaussichten von Dankbarkeit geprägt? Geben wir Christen ein gutes Beispiel ab, Gott auch auf nationaler Ebene die Ehre zu geben?
„Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut? Weißt du nicht, dass Gottes Güte dich zur Umkehr treibt?“, fragt Paulus im Römerbrief (2,4). Die Erfahrung von Gott „begnadigt“ zu sein sollte uns Ansporn sein, in einer Grundhaltung der Umkehr, lernfähig und korrekturbereit zu leben. Dies gilt für unser persönliches Leben ebenso wie für unser Volk. Deshalb stellt sich die Frage:
- Welche Haltungen – in West und Ost – bedürfen heute der Korrektur? Wo ist „Buße“ und die Bitte um Vergebung angezeigt im Blick auf die deutsch-deutschen Beziehungen seit 1990?
„Wem aber nur wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ Und „wem viel gegeben wurde, von dem wird viel zurückgefordert werden, und wem man viel anvertraut hat, von dem wird man umso mehr verlangen“ (Lk 7,47; 12,48). Die Geschichte erlebter Gnade nimmt uns in die Pflicht. Europa schaut zurecht erwartungsvoll auf Deutschland. „Made in Germany“ sollte weltweit ein Markenzeichen sein nicht nur für technisches Know-how, sondern für Werte, die anderen Nationen dienen. Deshalb fragen wir zuletzt:
- In welcher Hinsicht hat Gott selbst Erwartungen an uns Deutsche, dass wir Maßstäbe setzen im Blick auf Großzügigkeit, Selbstlosigkeit, Hilfsbereitschaft? Inwiefern möchte er uns auch geistlich wiederherstellen als Nation, die in dienender Weise Verantwortung übernimmt für andere Völker?
Können wir glauben, dass Gott uns – trotz unserer Geschichte von Schuld und Schmerz – noch einmal zuspricht: „Ein Segen sollst du sein“ (1.Mose 12,2)?
Bibelstellen nach: Einheitsübersetzung (2016)
Dieser Artikel erschien zuerst in: Geistesgegenwärtig September 2019
Hinterlasse ein Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!